Folia Theologica 15. (2004)
Attila Thorday: Religions- und Ethikunterricht in Ungarn
158 A. THORDAY in den kirchlichen Gymnasien vor.4 Dieses System überdauerte fast anderthalb Jahrhunderte bis 1948. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde - ähnlich wie in anderen Ländern Europas - auch in Ungarn ein vom konfessionellen Religionsunterricht unabhängiger Ethikunterricht gefordert. So argumentiert János Waldapfel in seinem Werk „Az etika oktatása közoktatásunk rendszerében" („Ethikunterricht in dem System unseres Schulwesens", 1918): Es gebe keine sittliche Handlung ohne ethische Orientierung; das ethische Wissen müsse einerseits allgemein, andererseits angewandt sein. Im Hinblick darauf, dass der Religionsunterricht in der Schule keine ethische Bildung für die ganze Klasse ermögliche, brauche man einen „von der Religion unabhängigen" Ethikunterricht, denn „es gibt eine von der Religion unabhängige, autonome, ohne die Sanktion der Religion auch gültige Moral". Dieses Fach müsse das ganze Schulwesen - von der Volksschule bis zur Universität, einschließlich der Berufsausbildung - umfassen. Gelegentlich stoße man auf ethische Elemente während des schulischen Unterrichts, aber es reiche nicht, da man „einen zusammenhängenden Kurs braucht".5 Sofort nach der kommunistischen Machtübernahme (1948) wurden fast alle kirchlichen Schulen verstaatlicht6 sowie das gesamte Schulwesens zu einem einheitlichen System umgestaltet: acht Jahre Grundschule, vier Jahre weiterführende Schule. Von 1950 an gab es praktisch 40 Jahre lang weder einen schulischen Religionsunterricht noch einen Ethikunterricht. Zwei Generationen wuchsen ohne eine religiös-sittliche Grundbildung in der Schule auf. Der hinter die Mauern der Kirchen zurückgedrängte Religionsunterricht erreichte insgesamt nur 5-10% der 6-9jährigen (Unterstufe), 3-5% der 10-13jährigen Schüler und 1% der Oberschüler. Nach der Systemwende im Jahre 1989 wurde das Schulwesen wieder umgestaltet. Es stand den Schulen frei, sich auf ein System von 4+8 oder 6+6 Klassen umzustellen. Das höhere Schulwesen wird mit dem Facharbeiterzeugnis oder Abitur abgeschlossen. 4 Den Berufsstand der hauptberuflichen Religionslehrer gibt es seit 1882; damals waren in Budapest 75 Priester und 100 Laien tätig. 5 János Waldapfel nach Nándor Horánszky, Erkölcsi nevelés - vallásoktatás - etikaoktatás, in: Támasz és talpkő. Tanulmányok az erkölcstan tanításához, Budapest 1995, 133-155, hier 133. 6 Es blieben acht katholische Gymnasien, um den Anschein der Religionsfreiheit zu erwecken.