Folia Theologica 15. (2004)

Helmuth Pree: Das Gewissen vor dem Forum des Kirchenrechts

106 H. PREE Einschätzung der Gültigkeit bzw. Ungültigkeit der Ehe erstrecken, jedoch hätte dieses Urteil keinen Anspruch auf rechtliche Relevanz. Auch wenn der Betroffene Kenntnis von einem mit Sicherheit vorlie­genden Nichtigkeitsgrund hätte, der aber nicht beweisbar ist, könnte dies an der im inneren und äußeren Bereich bestehenden Rechtslage nichts ändern. Das geltende Kirchenrecht kennt keine Möglichkeit und keine Vollmacht, eine Ehe proforo interno für nichtig zu erklären. Insbesondere könnte nicht ein mit potestas inforo interno ausgestatteter Amtsträger (z.B. der Beichtvater, der Bußkanoniker gemäß c. 508) dies zum Anlass nehmen, für den Gewissensbereich des Betroffenen eine andere Rechtslage herbeizuführen.19 Auch das rechtliche Kriterium der moralischen Gewissheit (vgl. c. 1608) kann hier nicht mit der Wir­kung herangezogen werden, dass auf Grund einer rein subjektiv er­langten „moralischen Gewissheit" ein vor der Rechtsordnung (und sei es auch nur im forum internum) anerkanntes Abweichen von der ob­jektiven rechtlichen Lage zulässig wäre. Vielmehr ist die Frage, die sich bei Bildung des Gewissensurteils stellt, folgende: Welche sittlich verantwortbare Handlungsmöglich­keit steht mir angesichts einer bestimmten Entscheidung der kirch­lichen zuständigen Autorität (z.B. angesichts eines ablehnenden Ehenichtigkeitsurteils) oder angesichts der bestehenden kirchli­chen Rechtslage offen? In die Bildung dieses Gewissensurteils ist der Gesamtkontext des mitunter komplexen Falles einzubeziehen. Dabei bildet die objektive Rechtslage eine zwar unbedingt zu be­rücksichtigende Komponente, nicht aber die einzige. Der Moral­theologe Johannes Gründel sagt: „Gebote, Weisungen, Traditionen und Normen der Autorität bieten hierfür eine Hilfestellung, neh­men aber dem Einzelnen den Entscheid nicht ab." 20Das sittliche Urteil bezieht alle Umstände des Falles mit ein, etwa auch die mora­lische Schuld oder Unschuld an der bestehenden Lage bzw. am Scheitern der Ehe, das moralische Vermögen oder Unvermögen der Betroffenen, die erfolgte oder nichterfolgte Umkehr oder Wieder­gutmachung angerichteten Schadens, vorhandenes Ärgernis, die 19 Umgekehrt gilt auch: Die kirchliche Jurisdiktionsgewalt vermag nicht über das Gewissen des Einzelnen zu verfugen und die juristisch-öffentliche Ent­scheidung an die Stelle der Gewissensentscheidung zu setzen. 20 J. GRÜNDEL, Person und Gewissen, in J. GRÜNDEL (Hg.), Leben aus christlicher Verantwortung. Ein Grundkurs der Moral, Bd. 1, Düsseldorf 1991, 72.

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