Folia Theologica 11. (2000)

Peter Henrici: Die Enzyklika zum dritten Jahrtausend. Fides et ratio

DIE ENZYKLIKA ZUM DRITTEN JAHRTAUSEND 11 An dritter Stalle das, was wir wahrscheinlich an erster Stelle aufgeführt hätten, nämich das Überhandnehmen anderer Formen vernünftigen Den­kens neben und anstelle der Philosophie: als mathematische Vernunft, naturwissenschaftliche Vernunft, technologische Vernunft, ökonomische Vernunft, usf. All diese Formen des vernünftigen Umgangs mit der Welt suchen nicht mehr nach einem letzten Sinn des Lebens; sie sind vielmehr „als ‘instrumentale’ Vernunft darauf ausgerichtet, utilitaristischen Zielen und dem Genuss oder der Macht zu dienen” (nr. 47). Aus der Sicht des Glaubens lässt sich dieser dritte Aspekt, der unsere heutige Lebenswelt am nachdrücklichsten prägt, am wenigsten eindeutig qualifizieren. Einerseits haben die Naturwissenschaften tatsächlich nicht nur die Philosophie, sondern auch den christlichen Glauben nach und nach von seinem Platz verdrängt, Doch andererseits stehen die Naturwis­senschaften, rein historisch und theoretisch betrachtet, weder im Gegen­satz zum Glauben noch zur Philosophie, ganz im Gegenteil. Sie selbst sind aus der Philosophie hervorgegangen und haben sich nur mühsam von ihr abgelöst. Ja, es war gerade der Nominalismus, diese Schöpfungs­philosophie christlichen Ursprungs, der die Entstehung der modernen Naturwissenschaft allererst möglich gemacht hat. Den historischen Be­weis für die „Christentumsverträglichkeit” der modernen Wissenschaft liefern ihre Begründer, die grössteteils selbst gläubige Christen waren, ein Galilei (den die Enzyklika - auch dies ein Novum - eimal wörtlich und zustimmend zitiert), ein Descartes, ein Pascal, ein Leibniz, ein New­ton, ein Ampère und viele andere. Die gegenwärtige Konkurrenzsituation zwischen Naturwissenschaf­ten, Glauben und Philosophie, die für manche ein Kennzeichen unseres Jahrtausendendes ist, ergab sich keineswegs zwingend aus der Natur des naturwissenschaftlichen Denkens; sie entspringt vielmehr subjektiv aus einer Lebenshaltung, die dem Glauben von vorneherein den Abschied ge­geben hat. In diesem Sinne - und nur in diesem! - tadelt” die Enzyklika wiederholt den Szientismus (nr. 88), „eine positivistische Denkweise (nr. 46) und den Utilitarismus (nr. 47). Zudem können wir in unseren Tagen ein eigenartiges Umkippen dieser glaubensfernen Lebenshaltung in „ver­schiedene Formen der Esoterik” (nr. 37) beobachten - New Age und Scientology könnten genannt werden -, vielleicht weil sich die Naturwis­senschaft als unfähig erweist, auf die drängende Sinn- und auf die noch dringlichere ethische Wertfrage eine Antwort zu geben. Auch die beiden erstgennanten Aspekte des neuzeitlichen Denkens, die Trennung zwischen dem Glauben und der Vernunft und die Substitu-

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