Folia Theologica 2. (1991)

Peter Henrici: Kann es heute eine christliche Kultur geben?

76 P. HENRICI Vor allem wissen wir: wo immer es um den Menschen geht, da geht es auch um Gott; denn der Mensch findet erst in Gott seine Vollendung. Das heisst nicht, dass wir auf den („jetzt mehr vormaligen”, wie Hegel sagt) Gottesbe­weisen herumreiten; vielmehr hat unser ganzes Denken eine ethische und metaphysische Ausrichtung: wir versuchen die Philosophie über blosse Ein­zeluntersuchungen hinauszuführen in grössere Sinnzusammenhänge hinein, und wir wissen, dass dieser Sinn des Lebens unserem praktischen Verhalten eine ethische Verantwortung auferlegt. 3. Ich habe diese letzten Sätze bewussst recht allgemein, vielleicht zu lau formuliert; denn sie können sich vielleicht durchsichtig werden vom christ­lichen Philosophieren auf das christliche Kulturschaffen hin. Jeder Philosoph ist ein Kulturschaffender; oder wenigsten Kulturträger ist auch jeder Christ, je auf seine Art und je an seiner Stelle. Auch da stehen wir als Christen in einer durch und durch pluralistischen und säkularisierten Welt, und wir können und wollen das nicht ändern. Vielleicht sind wir nur wenige, vielleicht nur „die kleine Herde”, vielleicht eher - noch geringer bloss der „Sauerteig”, der die Masse durchsäuert - vorausgesetzt, dass dieser Sauerteig sich nicht in einem Ghetto abkapselt. Doch so wenig wir vielleicht zu bedeuten haben, können wir dennoch einen unversetzbaren Kulturbeitrag leisten - im Sinne der beiden Einsichten, die auch für das christliche Philosophieren massgeblich wurden. Wir halten einerseits die lebendige Verbindung zu unserer christlichen, (kulturellen!) Vergangenheit aufrecht und tragen das Erbe dieser Vergangen­heit in die Zukunft hinein - ein Beitrag, der für den Aufbau des neuen Europa, für die Selbstfindung Europas entscheidend sein wird. Wir wissen in allem Kulturleben - im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen, wissen­schaftlichen, künstleri-schen, literarischen Leben - dass der Mensch von Natur aus auf Gott ausgerichtet ist. So werden wir als Christen hinter jedem menschlichen Schaffen (so bescheiden oder so grossartig es sein mag) einen tieferen (genauer gesagt einen höheren) Sinn finden; und wir werden versu­chen, von da aus eine ethische Verantwortung ins Kulturleben zu tragen. Das ist vielleicht nicht viel, und der Schluss des Vortrags mag Sie enttäu­schen. Aber es ist das, was sich heute, nach 15 bzw. 25 Jahren, als Imperativ aus den beiden in der Einleitung und im ersten Teil zitierten Texten ergibt: dass wir unsere heutige, nachneuzeitliche europäische Kultur mit dem Mut der Armut evangelisieren.

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