Folia Theologica 2. (1991)

Peter Henrici: Kann es heute eine christliche Kultur geben?

74 P. HENRICI Aquin zum allgemeinen und ver-bindlichen Lehrer erklärte, sollte nach der Meinung des Papstes ein grossangelegtes Programm kultureller und gesellschaftlicher Reformen grundlegen, das in „Rerum Novarum” (deren Zentenar wir heuer feiern) seinen krönenden Höhepunkt fand. Schon vor Leo XIII. waren abweichende katholische Philosophien, vor allem das Denken Giobertis und Rosminis, nicht so sehr aus philosophischen als aus kultur- und gesellschaftspolitischen Gründen bekämpft worden, und der Antimodernismuskampf Pius’ X. galt noch einmal zuerst und vor allem den politischen und sozialen Folgen dieser „neuen” Lehre. 2. Wir wissen heute, dass das kulturpolitische Programm des Ultramonta­nismus gescheitert ist. Kulturell hat es die Katholiken in ein Ghetto geführt, und es ist vielleicht nur den kulturellen Umbrüchen seit 1933 zu danken, dass es nicht bei diesem Ghetto geblieben ist. Philosophisch ist die Neuscholastik, die noch zu meiner Studienzeit beherrschend war, heute nur noch eine historische Erinnerung. Und doch gibt es auch heute noch christliche Philosophen - vielleicht mehr als je. Was aber ist das Christliche an ihrer Philosophie - ausser ihrem persönlichen Glauben? Die Geschichte der Neuscholastik hat uns zweierlei gelehrt. An erster Stelle wurde, paradoxerweise, die Geschichte des christlichen Denkens wiederentdeckt. Die Erneuerung der Scholastik geschah anfänglich ohne grosse historische Kenntnis; höchstens mit Rückprojektion eines gewissen romantischen Wunschdenkens ins Mittel-alter - Novalis’ „Die Christen­heit oder Europa”. Selbst die Enzyklika „Aeterni Patris” zeugt von grosser historischer Unkenntnis, wie einer ihrer ersten Rezensenten, der nachma­lige Kardinal Ehrle, angemaht hat.7 Und doch hat das wiedererwachte Interesse an der Scholastik dazu angeregt, die mittelalterliche Scholastik (und später auch die Vätertheologie) historisch zu erforschen - Namen wie Ehrle, de Wulf, Grabmann und Gilson mögen für viele andere stehen. Aus dieser historischen Kenntnis des mitteralterlichen Denkens, so wie es wirklich war, ist dann eine neue, viel lebendigere, viel „modernere” scholastische Philosophie erwachsen, die sich mit Erfolg auch mit dem Denken der Neuzeit auseinandersetzen und es inte-grieren konnte. Auch hier mögen Namen wie Rousselot, Maréchal, Congar, Chenu, de Finance, 7 F. EHRLE, Die päpstliche Enzyklika vom 4. August 1879 und die Restauration der christlichen Philosophie, in Stimmen aus Maria Laach 18 (1880) 13-28, 292-317, 388-407, 485—498; neu herausgeben von F. PELSTER, Zur Enzyk­lika „Aeterni Patris", Rom 1954.

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