Folia Theologica 2. (1991)

Peter Henrici: Kann es heute eine christliche Kultur geben?

72 P. HENRICI die absolute, apodiktische Gewissheit der galileischen, mathematisch vor­gehenden Wissenschaft philosophisch zu untermauern suchte. Descartes entwarf deshalb eine Philosophie des unfehlbaren menschlichen Wissens, die diesem Wissen eindeutig zuviel zutraute und weittragende Folgen haben sollte. Zwei Folgelinien zeichnen sich ab — entsprechend den zwei Elementen, die bei Descartes das Wissen konstituieren: das Cogito und die Ideen. Auf der einen Linie, die zu John Locke und Auguste Comte und zur heutigen analytischen Philosophie führt, stehen die Ideen, die Bewusstsein­sinhalte, im Mittelpunkt des Interesses. Sie sind nicht mehr, wie bei Descar­tes, eingeboren, sondern durch Erfahrung gegeben, d.h. rein vorfindlich, und bilden die Wirklichkeit ab. Der Umfang und die Gewissheit dieser „Data” umschreiben den Umfang und die Gewissheit jedes möglichen Wissens, die jedenfalls immer begrenzt sind. Ausserhalb dieses engen Bereiches herrschen die blosse Meinungen, an die man allenfalls glaubt und die (so Locke) zu tolerieren sind, oder die man (so Comte und die neueren) — in ihrer Unge- gründetheit entlarven muss. Diese Linie führt demnach zu einem positivisti­schen, pluralistischen und agnostischen Modell des Wissens. Auch der anderen Entwicklungslinie, die über Spinoza, Rousseau, Kant und Hegel zu Karl Marx führt, wird die Begründungsfunktion des cartesianischen Cogito entfaltet. Sie führt zu einem totalitären Modell des Wissens. Das „Cogito, ergo sum” soll bei Descartes absolut sicheres, unbezweifelbares Wissen begründen. Es kann dies aber nur, indem es seinerseits von Gott gestützt und garantiert wird. Diese göttliche Stützung wird in der Folge mehr und mehr in das menschliche Subjekt selbst verlagert, sodass dieses Subjekt selbst und sein Wissen göttliche Geltung bekommen — am deutlichsten bei Spinoza und Hegel, aber auch in der „volonté générale” Rousseaus. Der prophetische Ausspruch des historischen Materialismus, der eine zwar wis­senschaftlich begründete, aber absolut gültige Ge-schichtsdeutung geben wollte, ist nur auf diesem Hintergrund zu verstehen. Das „zwar menschlich” — „aber doch absolut” begründet den totalitären Anspruch dieser Wissens­modelle: es gibt für sie nur eine einzige absolute Wahrheit — ihre eigene —, der sich alles andere zu beugen oder dann zu verschwinden hat. In beiden Modellen aber, dem pluralistischen wie dem totalitären, ist der Bezug zum transzendenten Absoluten, zu Gott, verschwunden, der für den alten Nomi­nalismus noch konstitutiv war. Dieses Verschwinden erklärt, weshalb die Neuzeit die abwegigen Möglichkeiten des Nominalismus tatsächlich ver­wirklicht hat.

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