Folia Theologica et Canonica 4. 26/18 (2015)

SACRA THEOLOGIA - Krisztián Vincze, Die Realität und die würde des Leidens in der Philosophie von Simone Weil

107 DIE REALITÄT UND DIE WÜRDE DES LEIDENS... drücken zu können, was er fühlt, was überhaupt mit ihm geschieht.18 Das Un­glück ist jederzeit sprachlos, und der Unglückliche wird jeweils von den Zonen der Stille umkränzt, als ob er auf einer weiten Insel allein lebte. Inzwischen wenden die Mitmenschen ihre Blicke nahezu mit Gewalt von dem Unglückli­chen ab, weil der Unglückliche in seiner Zerbrechlichkeit und in seiner Ver­letzbarkeit die Nichtigkeit erschließt, die eigentlich das Eigentum aller Men­schen ist. Stünde man dieser Nichtigkeit wirklich gegenüber, müsste man sagen: „Das Spiel der Umstände, das ich gar nicht beeinflussen kann, kann mir zu jeder Zeit alles entnehmen, auch Dinge, die so straff zu mir gehören, dass ich über sie meine: sie sind ich. Es gibt nichts in mir, was ich nicht verlieren könnte. Die Zufälle können das zu jeder Zeit Umstürzen, was ich selbst bin, und sie können es durch jegliche gemeine und verachtungswürdige Dinge ersetzten.19 Der Un­glückliche wird sich schließlich als einen Verfluchten betrachten, weil er durch die niederschmetternden Mechanismen die Lenkbarkeit seines Lebens völlig verliert. Aufgrund dieser Empfindung der absoluten Machtlosigkeit entzweit er sich, schaudert vor sich selbst, verliert seine Persönlichkeit und erfährt sich nur als Objekt.20 2. Die Ursache des Leidens - der Mechanismus der Welt Simone Weil behauptet im weiteren Verlauf, dass das Leiden Zeichen der Meta­physik der Transzendenz ist, weil es einen bestimmten Bruch, einen bestimm­ten Widerspruch voraussetzt, etwas, was nicht existieren dürfte. Im Leiden er­lebt man sein der Harmonie gegenüberstehendes Anderssein und darin erfährt man auch seine von der übersinnlichen Vollkommenheit entstandene Zertren- nung. Wenn das Leiden sich stabilisiert, wird sie zum Unglück, das das Indivi­duum zu zerstören fähig ist. Das Übel, das man in Form von Schuld und Leiden erfährt, ist nichts anderes als Zeichen unserer Entfernung von Gott. In der Welt - meint Weil - zeigen die Notwendigkeit und die Liebe die zwei Gesichter Gottes, die die Vollkommenheit der Wirklichkeit sind. Als Gott die Welt schuf, wurde seine Macht offenbar, da die Schöpfung die Erstellung der Existenz, die Erweiterung des Seins bedeutet, ferner auch die Bestimmung von ewigen Gesetzen. Vor der Schöpfung war Gott alles in allem, nach der Schöp­fung existiert aber auch etwas außer Ihm. Die Schöpfung ist aber nicht nur die Offenbarung der Macht Gottes, da die Schöpfung nicht Selbsterweiterung Got­tes ist. Im Gegenteil - von seiner Seite ist sie Verzicht, Rücktritt und Selbst­ls Vgl. Vető M., Simone Weil, 109 (Weil, S., La Condition Ouvrière 251-252). 19 Vgl. Vető, M., Simone Weil, 109 (Weil, S., Ecrits de Londres et dernières lettres, 35). 20 Vgl. Weil, S„ Szerencsétlenség és istenszeretet, in Weil, S., Ami személyes és ami szent, 49-67, 53-55.

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