Folia Theologica et Canonica 1. 23/15 (2012)
IUS CANONICUM - Joseph Gehr, Die Förderung der affektiven Reife in der Seminarausbildung. Eine unerlässliche Voraussetzung zur Vorbereitung auf das zölibatäre Leben des Priesters
240 JOSEPH GEHR 6. Reinigung des Gedächtnisses Da die gegenwärtige Kultur dazu tendiert, die jungen Menschen mit erotischen Bildern zu überfluten, sammelt sich im Laufe der Zeit im Gedächtnis dieser Generation ein Reservoir von entsprechenden Eindrücken und Erinnerungen an. Ein wesentlicher Schritt der Erziehung zur affektiven Reife besteht nach dem Präfekten der Kiemskongregation daher in der Reinigung des Gedächtnisses. Diese sei aus spiritueller, moralischer und psychologischer Sicht für beide genannten Gruppen der Alumnen notwendig49. Auch die katholischen Familien, aus denen Priesterberufungen hervorgehen, vermögen es nicht, sich der negativen gesellschaftlichen Atmosphäre gänzlich zu entziehen. Nach „Pastores dabo vobis“ können sie „viele Mängel und bisweilen auch schwere Störungen“50 aufweisen. Die Reinigung des Gedächtnisses geschieht nach Piacenza durch die Erinnerung. Sie könne und müsse zumindest im „forum intemum“ in der Form der wirklichen Offenlegung der eigenen Reifungsgeschichte erfolgen, um sie vor Gott in ihrer Schönheit und Problematik hinzulegen. Dieser Vorgang begünstige jenen gesunden Realismus, ohne den ein authentischer Weg der Heilung nicht möglich sei. Die Ausbilder müssten die persönliche Geschichte des Kandidaten wirklich kennenlemen, um einen wirksamen geistlichen Weg Vorschlägen und mitgehen zu können, damit der Kandidat jene Reife des Gefühlslebens erlange, die für die verantwortbare ausdauernde Annahme des zölibatären Charismas notwendig sei. Ein Verschweigen grundlegender und relevanter Aspekte wäre fatal. Daher sei es besser, sich einem Priester seines Vertrauens zu öffnen als gänzlich zu schweigen, falls es schwer falle, im Seminar eine Gesprächsbasis zu finden. Alle während der Seminarausbildung nicht gereinigten Erinnerungen und nicht überwundenen schlechten Gewohnheiten würden wieder auftauchen und ernsthafte Probleme hinsichtlich der Ausgeglichenheit und bisweilen sehr schmerzliche geistliche, moralische und psychologische Folgen verursachen. Die Reinigung des Gedächtnisses, die ihre anfängliche grundlegende Phase im Seminar habe und ein ganzes Leben lang andauem solle, fordere eine radikale Demut. Die Priesterkandidaten müssten entschlossen mitarbeiten und entschieden unterstützt werden, damit der gemeinsame Weg der Purifika- tion mit Gottes übernatürlicher Gnade bewältigt werden könne51. 49 Vgl. Piacenza, M, Laformazione affettiva al sacro celibato, 22. 50 Johannes Paul II, Pastores, Nr. 44, 81. 51 Vgl. Piacenza, M., La formazione affettiva al sacro celibato, 22-23. Vgl. auch Klasvogt, P., Angesprochen und herausgefordert. Priester werden aus Berufung - Zugänge, Anforderungen, Perspektiven, Paderborn 2007. 220-221.