Folia Canonica 6. (2003)
STUDIES - Peter Landau: Seelsorge in den Kanonessammlungen von der Zeit der gregorianischen Reform bis zu Gratian
SEELSORGE IN DEN KANONESSAMMLUNGEN 59 diejenigen, denen die Gemeinden anvertraut waren, sollten unter der Gewalt der Bischöfe verbleiben, deren Zuständigkeit in Synodalkanones und kirchlichen Dekreten anerkannt worden war. In der Zeit der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts änderte sich die Situation jedoch insofern weitgehend, als nunmehr viele laikale Eigenkirchen an geistliche Korporationen übertragen wurden. In manchen Regionen Europas soll es in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts zu einer Vermehrung klösterlicher Pfarrkirchen von einem Viertel zur Hälfte der Gesamtzahl aller Pfarrkirchen gekommen sein7. Zweitens ist auf die starke Verbreitung der Regularkanoniker nach 1050 hinzuweisen, deren vita communis durch das Laterankonzil von 1059 geregelt wurde.8 Drittens entstand durch die Konkurrenz von Regularkanonikem und Mönchen auf dem Feld der Seelsorge und durch die Frage der Berufung des ordo canonicorum im Vergleich zum ordo monachorum für die cura animarum ein völlig neues Problem, bei dem man vom kanonischen Recht Regeln erwarten konnte, aus denen sich Maßstäbe für die Erlaubnis oder das Verbot der Seelsorge für Angehörige der jeweiligen Gemeinschaft entnehmen ließen. Schließlich musste viertens in einer Zeit der Kirchenreform die Seelsorge für die Laien einen höheren Stellenwert erhalten; Vernachlässigung dieser Aufgabe durch die Kleriker konnte nur überwunden werden, wenn man die cura animarum als Rechtspflicht genauer bestimmte. Es ist daher nicht überraschend, dass nach 1080 in den Kanonessammlungen allmählich häufiger Rechtstexte zur cura animarum auftauchen. Mit diesen Texten will ich mich in meinem Beitrag befassen. II. Anselm von Lucca zur cura animarum Ich gehe zunächst von der Collectio canonum des Anselm von Lucca aus, die in den letzten Jahren von Gregors VII. Pontifikat in ihrer ersten Redaktion zusammengestellt wurde und in der modemen Forschung als besonders charakteristisch für die Gedankenwelt der gregorianischen Reform betrachtet wird.9 Anselm bringt einschlägige Texte im Buch VII seiner Sammlung, überschrieben in der Erstredaktion “De communi actu clericorum et de omni actu eorum“.10 Hier 7 Cf. J. Gaudemet, Le Gouvernement de l'Église à l'époque classique. Ile partie: Le Gouvernement local in Histoire du Droit et des Institutions de l'Église, tome VIII, vol. 2, Paris 1979,285s. 8 Cf. H. J. Mierau, Vita communis undPfarrseelsorge in Forsch, z. kirchl. Rechtsgesch. u. zum Kirchenrecht Bd. 21, Köln etc. 1997,278s. 9 Cf. die neueste Untersuchung von K.G. Cushing, Papacy and Law in the Gregorian Revolution. The Canonistic Work of Anselm of Lucca, Oxford 1998. 10 Anselm II. Bischof von Lucca, Collectio canonum, F. Thaner (ed.) Innsbruck 1906-15, rist. Aalen, 362, n.a. Die Überschrift findet sich in m.s. Vat. lat. 1363 (Rezension A) der Sammlung.