Folia Canonica 5. (2002)
STUDIES - Spyros N. Troianos: Die Entwicklung und der aktuelle Stand des kanonischen Rechts und der Kanonistik in der griechischen Orthodoxie
KANONISCHES RECHT UND KANONISTIK IN DER GRIECHISCHEN ORTHODOXIE 21 Geschichte und Institutionen des römischen Rechts an der Juristischen Fakultät gelesen hatte. Phrearitis hielt bis 1881 regelmäßig Vorlesungen über Kirchenrecht. Von ihm ist kein Lehrbuch überliefert. Einem Band mit stenographischen Mitschriften seiner Vorlesungen, den ich besitze, ist zu entnehmen, daß sich Phrearitis vornehmlich mit den Quellen des Kirchenrechts befaßte. Im Jahre 1881 wurde Phrearitis von der Universität entfernt. Es ist mir nicht bekannt, unter welchen Umständen dies geschah; vermutlich waren es aber politische Gründe. An seiner Stelle wurde als außerordentlicher Professor der bereits (seit 1874) im Kirchenrecht habilitierte Johannes Eutaxias berufen. Neun Jahre später (1891) wurde er von der Juristischen Fakultät zum ordentlichen Professor gewählt. Eutaxias, der sowohl Theologie an der Universität Athen als auch Rechtswissenschaft an der Universität Leipzig studiert hatte, war der erste griechische Jurist, der sich systematisch mit dem gesamten Kirchenrecht, einschließlich des kanonischen Rechts, befaßte. Dennoch konnte er sich nicht ausschließlich diesem Fach widmen, da er nebenbei auch Zivilprozeßrecht las. Diese parallele Beschäftigung hatte zur Folge, daß Eutaxias nach seiner 30jährigen Lehrtätigkeit- mit Ausnahme der stenographischen Vorlesungsmitschriften - kein Werk hinterließ, das seinen kirchenrechtlichen Unterricht umfaßte. Schließlich trat er 1911 im Alter von 66 Jahren zurück, um das Amt des Präsidenten der griechischenNa- tionalbank zu übernehmen. Obwohl er noch bis 1927 lebte, kam er nicht dazu weitere kirchenrechtliche Werke zu verfassen. Sein einziger kirchenrechtlicher Beitrag blieb somit eine 1872 erschienene umfangreiche Arbeit über das Priesteramt im kanonischen Recht der Orthodoxen Kirche. Es ist offensichtlich, daß alle Professoren für Kirchenrecht über ein halbes Jahrhundert die Ansicht des ersten Lehrstuhlinhabers (Potlis) teilten, die Lehre von den Beziehungen zwischen Staat und Kirche interessiere im Prinzip nur den Staat. Somit ignorierten sie praktisch einen wichtigen Teil des Kirchenrechts und überließen sie die Erforschung und Behandlung der diesbezüglichen Fragenkomplexe den Vertretern des Öffentlichen Rechts, welche diese Aufgabe sehr gewissenhaft erfüllten. In diesem Sinne warNikolaos Saripolos d. Ä., der erste Verfassungsrechtler an der Athener Universität (Dozent seit 1846), der eigentliche Begründer des Staatskirchenrechts in Griechenland. Im Rahmen seiner „Abhandlung des Verfassungsrechts“ (Athen 1874) bot er im dritten Teil unter dem Titel „Über die Religion“ eine vollständige Darstellung des in Griechenland geltenden Staatskirchenrechts. Nach dem Vorbild Saripolos’ d. Ä. befaßte sich auch sein Sohn, Nikolaos Saripolos d. J., ebenfalls Professor für Verfassungsrecht an der Juristischen Fakultät der Universität Athen (1910-1923), mit der Rechtsstellung und Organisation der Autokephalen Kirche Griechenlands, der verfassungsmäßig gewährleisteten