Csaplár Ferenc szerk.: Lajos Kassák / Reklame und moderne Typografie (1999)

Weg zur elementaren Typografie

türlich in vielen Fällen vorbehaltlos erklären: diese Reklame sei großenteils noch geschmacklos und in den meisten Fäl­len noch antisozialer Art. Doch kann der auf freier Konkur­renz basierende Handel des Kapitalismus einer gleichen Kritik unterzogen werden. Hieraus soll aber nicht die endgül­tige Verneinung des Handels folgen, sondern die Umstel­lung desselben auf sozialere Grundlagen. Es ist zweifellos so, daß das heutige Rußland zum Bei­spiel eine bedeutend größere kulturelle und wirtschaftliche Propaganda entfaltet, als es zur Zeit der Zarenregierung geschah. Dieses Staatsgebilde, welches nach größerer Einheitlichkeit und kollektiven Lebenseinrichtungen trachtet, hat die Reklame nicht beseitigt, dieselbe bloß den Krallen der auf die Konjunktur erprichten Privatinteressen entrissen und diese bisher antisoziale Kraft zu einer die Interessen der Gemeinschaft verfolgenden Propaganda umgeformt. Hier­durch wurde die russische Reklame nicht bloß im morali­schen Sinne, sondern auch der künstlerischen Bedeutung nach wie neugeboren. Das neue russische Plakat ist, gleich dem amerikani­schen Plakat, von der individuellen Grafik weit abgekom­men. Die russischen Reklameentwerfer gehörten zu den ersten, die den demonstrativen Charakter und die agitatori­sche Bestimmung der Reklame erkannt hatten. Aus dieser Erkenntnis folgt, daß die russischen Plakate und typogra­fischen Schöpfungen im allgemeinen einfach, objektiv und ökonomisch geworden sind. In Europa hatten die deutsche Industrie und der deut­sche Handel am ehesten die Zeitgemäßheit des umgewer­teten Reklamebegriffes, sowie die künstlerische Entwick­lungslinie und die Lösungsmethoden des Reklamemachens erkannt. Wahrscheinlich besteht ein inniger Zusammen­hang zwischen der sich rapid entfaltenden und bewußt gelenkten Entwicklung der deutschen Reklame und dem mächtigen Aufschwung der technischen Ausrüstung und der Rationalisierungsbestrebung auf dem Gebiet der deutschen industriellen Produktion. Das im Kriege niedergerungene Deutschland ist schnell zur Erkenntnis gelangt, daß es sei­ne wirtschaftliche Bedeutung am raschesten und sichersten durch seine ökonomische Produktion und durch den Quali­tätswert seiner produzierten Waren zurückgewinnen kann. Es produziert auf Grund wissenschaftlicher Erwägungen und ist ebenfalls auf Grund wissenschaftlicher Erwägungen bestrebt, für seine produzierten Waren Märkte zu sichern. Auch die Entwicklung der deutschen Reklameherstellung wird durch den unüberwindlich scheinenden Lebensinstinkt des Landes, sowie durch die Bewußtmachung dieses Le­bensinstinktes gelenkt. Zu den aus gutem Material sorgfäl­tig hergestellten Waren haben deutsche Künstler die ele­mentare Reklamekunst geschaffen, welcher unbegrenzte Entwicklungsmöglichkeiten offen stehen, aber in vielen Fäl­len ist dieselbe bereits heute eher eine gesellschaftliche Pro­paganda, als eine auf die Unorientiertheit und naive Leicht­gläubigkeit des Publikums berechnete Agententätigkeit. Es ist leicht kontrollierbar, welche Wirkung Deutschlands Reklamekunst auf die kommerzielle Propaganda Europas ausübt. Soziologen und Ästhetiker, aber auch das große Publikum von Laien, sie alle müssen zur Einsicht gelangen, daß die gute Reklame ein aktiver Faktor unseres Lebens ist, ein unentbehrliches Vermittlungsorgan zwischen Produ­zenten und Konsumenten, und ihre Erscheinung wird nicht als „schön", sondern als „eindrucksvoll" bewertet. Obwohl die Stoffe, durch welche ihr Wesen zum Ausdruck gelangt, ebenso wie bei den subjektiven Künsten, in Farbe, Ton und Form bestehen, sondert sich die Reklamekunst sogar vom Kunstgewerbe ab. Sie ist keine lyrische Komposition oder dekorative Fläche. Darum kann zum Beispiel ein gelunge­nes Plakat dem Betrachtenden unter anderem auch ein ästhe­tisches Erlebnis bieten, es ist aber unmöglich, daß ein male­risch gelungenes Bild uns im ersten Augenblicke verblüfft und in uns das Verlangen nach etwas Neuem, Sensationel­lem erweckt. Das Publikum einer Bilderausstellung genießt den passiven Ästhetizismus der subjektiven Kunst, wenn wir aber auf eine Litfaßsäule blicken, so dominiert vor unseren Augen nicht das Nebeneinander der Plakate, sondern die Konkurrenz derselben untereinander. Die gute Reklame, sei sie entweder optisch (Plakat, Flugzettel, Prospekt oder in die Nacht projizierte Licht­schrift), oder akustisch (das Gellen einer Sirene, Schellen­geklingel), tritt jederzeit als Eroberer, im Tempo des Über­falls auf den Kampfplatz und ihr folgt die Legion der auf den Markt geworfenen Waren. Sie ist nicht die knechtische Ver­mittlerin einer außer ihr stehenden Sache, sondern ein zwi­schen der Produktion und der Konsumtion bestehender Kraftkomplex. Die fundamentalen Elemente der guten Reklame sind: die Soziologie und die Psychologie. Jede Abschattierung der Stimmungen oder illustrative Weitschweifigkeit widerspricht dem Wesen der Reklame, hemmt die sofortige Wirkung und die überzeugende Sug­gestion. Die gute Reklame ist nicht analytisch und definitiv, sondern synthetisch - eine Einheit von Zeit, Gehalt und Stoff. Diese elementare Schlichtheit und Reinheit der guten Reklame ist es, was uns im lärmenden und bunten Trubel der Straße auf einen Augenblick innehalten läßt, dies ist es, was uns antreibt, in ein Warenhaus zu treten, welches wir ei­nige Augenblicke vorher vielleicht sogar dem Namen nach noch nicht gekannt haben, dies ist es, was uns zu einem bisher unbekannten Buch eines unbekannten Autors greifen läßt, uns aus der Eintönigkeit des Alltags, aus der Blind­heit und Taubheit der Anspruchslosigkeit erweckt, uns durch ihre elementaren Farben und dynamische Formgliederung neugierig und entschlossen macht. Die Reklame ist eine der charakteristischsten Manifesta­tionen des Niveaus und der wirtschaftlichen Blutzirkulation der Gegenwart. Die Lichtreklame einer Großstadt, die über den Häusern glänzenden Transparente, die Schaufenster, die ins Auge springenden Buchstaben, die festen Ausrufe­zeichen der Glassäulen auf den Boulevards reden eine eindringlichere und objektivere Sprache vor den Augen des Fremden, als sämtliche geschwätzigen und reaktionär ein­fältigen Baedekers. Der wohltypografierte Prospekt eines Warenhauses mit den geradeschnittenen, leicht zusammen­faßbaren Buchstaben, mit der dunklen und lichten Raum­verteilung der Papierfläche erweckt als ruhiger und einfacher Gegenstand mehr Anspruch und Vertrauen, als alle indi­viduellen Künsteleien. Das unerwartete Schmettern eines Blashorns fixiert in unserer Erinnerung bis ans Lebensende die Autoanlage oder das Lichtspieltheater, vor welchem wir diesen „sinnlosen", jedoch verblüffend einfachen und sug­gestiven Ton vernommen haben. Den Reklametypus der Gegenwart charakterisieren in immer steigendem Maße die Harmonie der Elemente, die markante Schlichtheit und die technisch leichte Herstellbar­12

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