Török Dalma (szerk.): Mantel der Traume. Ungarische Schriftsteller erleben Wien, 1873-1936 (Budapest, 2011)

Wien-brevier - Sándor Márai: Bekenntnisse eines bürgers

nahm ihren Platz unter dem brüchigen Dach des Hauses ein, unermüdlich musizierten die Mädchen und malte der Onkel. Als Ganzes war diese Familie samt der Staffelei, dem verstimmten Klavier, den hochklappbaren Betten, der jugendfrischen und eleganten Armut, der schwebenden Lebensart so ziemlich das Beste, was Wien zu bieten hatte. Der alte Franz und die sechs Mädchen waren wenigstens ebenso und in dem Maße Wien wie der Stephansdom oder der Stock im Eisen. Wien wäre ohne sie nicht denkbar gewesen. Schnitzler und Hofmannsthal kamen zu ihnen in den Hietzinger Garten, Altenberg schrieb den Mädchen Liebesbriefe, die er dann vorsorglich zurück erbat, an die Zeitungen verkaufte und in seinen Büchern veröffentlichte. Drei Mädchen gingen zum Ballett und tanzten in die Welt hinaus, natürlich im Walzerschritt, bei dem sie sich nie vertaten. Sie waren der Wiener Walzer, diese drei jungen Mädchen, ihr Schritt und ihr Lachen, von dem die Welt schwärmte von Petersburg bis New York, der personifizierte, gefühlvolle und melodiöse Dreivierteltakt. Der Alte stand im Garten vor der Staffelei, malte die übriggebliebenen Modelle und zankte mit der älteren Schwester meiner Mutter, Róza, der Mutter der Mädchen. Sie zankten sich fünfzig Jahre lang, bei der Silberhochzeit und der goldenen Hochzeit schöpften sie ein wenig Atem, dann zankten sie sich weiter. Die Mädchen kamen nach Hause, weil ihr Vertrag abgelaufen war oder sie sich hatten scheiden lassen, und ganz selbstverständlich legte sich die weltberühmte Tänzerin, die sonst Appartements in Luxushotels der Metropolen bewohnte, bescheiden in ein hochklappbares Bett neben ihre Schwestern. Manchmal unternahm der Maler Ausflüge nach Wien, um dann mit besorgniserregenden Beutestücken zurückzu­kehren; er kaufte zum Beispiel das vergoldete Salonmobiliar eines bankrotten Operettentheaters oder erwarb preisgünstig im Dorotheum einige Posten blaßvioletter, langer Damenhandschuhe. Diese Ausflüge wirkten im Le­ben der Familie wie Elementarkatastrophen. Die Bühnenmöbel stellte man notgedrungen ins große Zimmer, die blaßlila Handschuhe wurden von den Mädchen jahrelang getragen. Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki 215

Next

/
Thumbnails
Contents