Markója Csilla szerk.: Mednyánszky (A Magyar Nemzeti Galéria kiadványai 2003/2)

Csilla Markója: „Die Entfernung zwischen einem erhabenen und einem abscheulichen Gesicht". Über die außergewöhnliche Kunst des László Mednyánszky

CSILLA MARKÓJA „Die Entfernung zwischen einem erhabenen und einem abscheulichen Gesicht" „Es steht außer Zweifel, dass sich die ausdrucksvolle Sensualität des Gesichts, die sich darüber auch jetzt, beim Herannahen meiner Lippen, verbreitete, UBER DIE AUßERGEWÖHNLICHE nur in einem unendlich kleinen Grade, in der Abweichung einer winzigen Linie KUNST DES LÁSZLÓ MEDNYÁNSZKY von der einstigen unterschied, aber in dieser war jene Entfernung eingefangen, die zwischen der Tat des Menschen, der einen Verwundeten tötet, und jenes anderen, der ihm auf die Beine hilft, besteht - es war die Entfernung zwischen einem erhabenen und einem abscheulichen Gesicht." (Proust) 1 Einführung László Mednyánszky ist die fruchtbarste und rätselhafteste Gestalt der ungarischen Malerei an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Er entstammte einer oberungarischen Aristokratenfamilie, verteilte jedoch sein Vermögen unter Bedürftigen und kümmerte sich nicht um materielle Güter. Sein mehrere tausend Gemälde umfassendes Œuvre ist heute größtenteils verschollen, denn an seinen Werken war er nur bis zu ihrer Fertigstellung interessiert, und es machte ihn glücklich, sie an seine Modelle zu verschenken, die zumeist einfache Bauernburschen, Vagabunden, Zigeuner, Kutscher, Soldaten, Bettler oder Stadtstreicher, „zweifelhafte Existenzen" aus den Vorstädten waren. In seinen sog. Landstreicherbildern schuf er hingegen als Nachfolger von Ribera, Millet und - in anderer Hinsicht - auch Daumier eine neue Kunstgattung. Sie sind eine Folge monumentaler figürlicher Darstellungen, die nichts von dem falschen Mitgefühl und der Sentimentalität des damals so modischen Malens armer Leute haben. Seine Landschaftsbilder wirken auf den ersten Blick naturalistisch, wie wirkliche Landschaften, obwohl es in Wahrheit versteckte Selbstbildnisse, zur Allgemeingültigkeit erhobene, metaphysisch geprägte „symbolistische Stimmungsbilder" sind. Neben Porträts und Landschaften kennen wir von ihm auch eigenartige Bilder, die mit der Kunstgattung Genrebild „umschrieben" werden könnten, aber eigentlich in ihrer Zeit nicht ihresgleichen finden. In diesen Werken experimentierte er mit der Darstellung von Gewalt und Leid, wobei er die elementaren Kräfte, Energien und Leidenschaften entweder wie herausgegriffene Bilder eines Cartoons in Aktionsszenen setz­te (Straßenversammlung, Kat. 85; Lynchen, Kat. 210; Drei serbische Freischärler, Kat. 245) oder zu Emblemen passiver, leidender oder melancholischer Figuren komprimierte {Gefesselter Gefangener, Kat. 80; Grübler, Kat. 214). Des weiteren sind uns von seiner Hand viele hundert Bleistiftzeichnungen von Gefangenen, Gefolterten, Verwundeten und Gefallenen überliefert - und diese besondere Kriegsthematik im weitesten Sinne des Wortes begann Mednyánszky nicht im Krieg, sondern in der strahlenden Pracht der Monarchie des Fin de Siècle. Mednyánszky hatte zu allen Zeiten berufene Interpretatoren. „Es gibt keinen Logos, nur Hieroglyphen", schreibt Deleuze in Verbindung mit Proust. 2 Auf die - wie Proteus - nur in Verwandlungen existierende Kunst Mednyánszkys trifft das ganz besonders zu. Die Hieroglyphen, die er ein Leben lang hervorsprudelte („Ich male, wie alte Frauen Strümpfe stricken!", äußerte er einmal zu dem Wiener Malerfreund Gyula Kláber 3 ), wurden schon zu seinen Lebzeiten von vielen gedeutet. Wie Jan Abelovsky treffend bemerkt, trägt die Kunst Mednyánszkys „verschlossene" autistische Züge. 4 Diesen Autismus müssen wir uns aber nicht einfach im psychologischen Sinne vorstellen, wie Miri, die Schwester des Künstlers, es tat, wenn sie auf die manische Depression Mednyánszkys hinwies, 5 oder wie z. B. Henrietta von Szirmay-Pulszky, die den Maler geradewegs als schizoiden Psychopathen bezeichnete. 6 Diese Feststellungen haben nämlich recht wenig mit den Werken gemein und dienten, wie hoffentlich nachfolgend deutlich wird, einem ganz bestimmten Zweck im Nachlassprozess. 7 Unter einem anderen Aspekt sind sie allerdings doch wichtig, denn in diesem Prozess treffen zwei Interpretationsgruppen Mednyánszkys symbolisch aufeinander, und durch eine spezifische Metamorphose infolge einer historischen Wende besteht diese Uneinigkeit noch heute. Die Rivalität vollzieht sich nicht mehr zwischen Nichtungarn und Ungarn, aber teils noch immer auf territorialer Ebene: Ich denke hier an den unseligen Streit unter den slowakischen und ungarischen Kunsthistorikern um die Zugehörigkeit Mednyánszkys. 8 Im Prozess, der zwischen der Schwester des Künstlers, Frau Margit Czóbel, geb. Mednyánszky, und der Firma Singer und Wolfner um den Nachlass Mednyánszkys geführt wurde, handelte es sich nicht nur um materielle Dinge. Es ging auch um die Beleidigung, die die oberungarische Aristokratenfamilie des Künstlers und sein geistiges Umfeld, ein für konservative Reformbestrebungen bekannter Kreis, empfanden, als Mednyánszky ihnen und der Heimat nach 1897 von einer Budapester „aufstrebenden bürgerlichen" Gesellschaft „entrissen" wurde, die sich um den jüdischen Buch- und Zeitschriftenverleger József Wolfner gruppierte 9 und Mednyánszky im Rahmen des Mäzenatentums des bekannten Geschäftsmannes materiell 10 und geistig unterstütz­te. Die geistige Förderung manifestierte sich in Artikeln von Károly Lyka, während „die andere Seite" durch die Monographie von Dezső Malonyay, den Roman von Zsigmond Justh, der auch die Gestalt Mednyánszkys zitierte, und einige Zeitungsartikel, Feuilletons und Novellen, unter anderem von Gyula Pékár, vertreten war. Bevor wir aber den schweren Fehler begehen, diese verborgene Zwietracht" übermäßig hervorzuheben und uns mit der irreführenden Teilwahrheit eines nationalistisch-kosmopolitischen Gegensatzes belasten (denn die selbstbewusste nationale Rolle, die József Wolfner und sein Verlag spielten, die damit verbundenen materiellen Aufwendungen und das umfangreiche Mäzenatentum des Verlegers könnten Gegenstand einer eigenen kulturhistorischen Studie sein, und die separaten utopistischen Reformvorstellungen des Czóbel-Kreises bzw. die „nationale Ästhetik" des Dezső Malonyay sind nicht ausschließlich als Äußerungen des „Turaner" Nationalismus zu verbuchen), wollen wir noch einmal zu den oben erwähnten autistischen Zügen zurückkehren. IS

Next

/
Thumbnails
Contents