Nagy Ildikó szerk.: A Magyar Nemzeti Galéria Évkönyve 1989-1991 (MNG Budapest, 1993)
Pieske, Christa: DAS BILD IM BILDE: „EIN MORGEN NACH DEM MASKENBALL"
deshalb, weil viele Bilddokumente nicht mehr auffindbar sind und als verschollen gelten müssen 14 . Es haben sich in der europäischen Genremalerei einzelne Sparten herausgebildet, zu denen das Bauerngenre mit ländlichen Interieurs und das bürgerliche Familiengenre in entsprechender Wohn situation gehören 15 . Bei fast allen diesen Interieurdarstellungen, zu denen noch die eleganten Salons mit ihren Gesellschaftsszenen um 1900 zu rechnen wären, ist auch der jeweilige Wandschmuck mehr oder minder deutlich angebracht. Welche Rolle ihm zugemessen wurde, geht aus dem Kontext der Bildhandlung hervor. Bevor die einzelnen Verwendungen von „Bild im Bilde" mit entsprechenden Belegen beschrieben werden sollen, mag noch auf eine andere Erscheinung eingegangen werden. Es handelt sich um die Graphikmappe, die zu den selbstverständlichen Kulturgütern vom 18. Jahrhundert an gehörte und auf zahlreichen Abbildungen zu finden ist 16 . Ihr Inhalt diente der Kenntnis von Neuerscheinungen auf dem Kunstmarkt, die durch den Stich oder die Lithographie vervielfältigt wurden. Sie diente aber auch der Erziehung zur Kunst für die ganze Familie. Umfang und Qualität einer solchen Mappe wurden zum Spiegel des Geschmackes und zum Gradmesser der Bildung ihres Besitzers. Die Portefeuilles pflegten über Generationen hin zu wachsen. Sie hatten ihren festen Platz in den abendlichen Unterhaltungen, worauf in Spemanns „Schatzkästlein des guten Rates" etwas indigniert hingewiesen wurde. Was im wohlstandsbürgerlichen Miteinander eine Funktion erfüllte, wurde auch zum Vorbild im Volkskalender, der neben der Bibel oft das einzige Gedruckte in den Haushalten weiter Landstriche darstellte. Der Holzschneider und Herausgeber des „Deutschen Volkskalenders", Wilhelm Gubitz (1786- 1870) ließ ab 1835 für seine rührseligen Geschichtchen den Kalendermann die entsprechenden Drucke mit Genrestücken aus seiner großen Mappe ziehen 17 . Mit unerschöpflicher Phantasie fügte er Bild um Bild zusammen und erzielte bei seinen Zuhörern jeden Alters ungeteilte Achtung und Bewunderung. Der Begriff Bildermappe war auch ein stehender Ausdruck in den Familienzeitschriften und in den Annoncen der Kunstverlage. Sammelmappen wurden zu Ablagen für die nicht immer erwünschten Nietenblätter der Kunstvereine oder zu unerwarteten Schatzkästen für spätere Generationen. Die vorliegende Untersuchung befaßt sich ebenfalls mit einer Graphikmappe, deren Inhalt der ungarische Genremaler Joseph Borsos zum eigentlichen Mittelpunkt seines Gemäldes machte. Das „Bild im Bilde", auch als Nebenbild bezeichnet, dient drei Verwendungen : 1. Als Repräsentant der (nicht immer sichtbaren) Interieurbewohner und ihres sozialen Umfeldes. 2. Es hat als Teil der Bildhandlung eine Schlüsselfunktion. Diese kann in einer Erklärung bestehen, einer Sublimierung oder einer negativen Voraussage, gelegentlich auch in einer humoristischen Einlage. 3. Es dient als Werbung für den Maler, Stecher, Zeichner oder Kunstverleger. Zu 1 : Das dargestellte Wandbild - hierbei ist es gleichgültig, ob es sich um ein Gemälde, eine Zeichnung oder einen Druck handelt — weist von seiner Erscheinung her auf das soziale Umfeld des Hauptbildes. Die Anzahl der Bilder, ihre Formate und ihre Ausgestaltung durch die Rahmung kennzeichnen nicht nur die Funktion der Räumlichkeiten, sondern lassen auch indirekt den Besitzer sprechen. Hier spielen Ahnenstolz — die Ahnengalerie des Adels war das große Vorbild — und das Erinnerungsbedürfnis zur Findung der eigenen Identifikation seine besondere Rolle. Diese Gedanken waren auch den unteren Sozialschichten nicht fremd: Zumindest wurde ein Hochzeitsfoto erstellt und gut gerahmt für die nächsten Generationen festgehalten. In den Aufnahmen von den Berliner Elendsquartieren, die um 1900 von der Krankenkasse veranlaßt waren, geben die Familienfotos Kunde, daß auch nach dem sozialen Abstieg die bürgerlichen Werte galten 18 . Im ländlichen Bereich waren die Totengedenken sehr verbreitet, die zu einer vielgestaltigen Erinnerungsgraphik führten 19 . Das Bildungsbürgertum wies sich durch einen Wandschmuck aus, der hauptsächlich in teuren Drucken nach alten Meistern bestand. Stiche und Lithographien nach Raffael, Tizian, Correggio oder Lionardo mit religiösen Inhalten waren bevorzugt und blieben ein fester Bestandteil der Kunstverlagskataloge. Hier wurden auch Stoffe aus der Antike und Historie, aus Mythologie und Literatur gewählt, — alles Gebiete, zu denen man ein vertrautes Verhältnis besaß oder es zumindest durch den Wandschmuck erstrebte. Nebenbilder dienten vielfach als Ausweis von Vaterlandsliebe und Religiosität. Sie bekundeten politische Gesinnungen und selbstverständliche Frömmigkeit. Das beschränkte sich keineswegs auf die bürgerlichen Kreise. In fast allen Handwerkerstuben, wie sie auf den