Nagy Ildikó szerk.: A Magyar Nemzeti Galéria Évkönyve 1980-1988 (MNG Budapest, 1989)
R. Várkonyi, Ágnes: VARIATIONEN ÜBER DIE UNGARISCHE GESCHICHTE: DIE BILDER DER AUSSTELLUNG. UNGAR 1526-1790
werden konnten, und daß die dringende Umgestaltung ohne Koordinierung der Interessen im Landesmaßstab, ohne Teilnahme der verschiedenen Schichten der Gesellschaft, unmöglich war. 70 Nach 1790 setzen sich die Landtage der ungarischen Stände wieder zusammen, und die unter der Herrschaft von Franz I. sich entfaltende ungarische Reformbewegung sollte dann entsprechend den Bedürfnissen der bürgerlichen Umgestaltung und der nationalen Unabhängigkeit die Richtung der Veränderung festlegen. Die Bevölkerungszahl hat sich nach 1711 verdoppelt. In weniger als einem Jahrhundert stieg die Zahl von 4 Millionen auf 9.5 Millionen. Regierung und Großgrundbesitz öffneten durch planmäßige Aktionen den ausländischen Kolonisten die Tore. Wie in Europa trugen die besseren Lebensbedingungen und günstigeren hygienischen Umstände zur natürlichen Vermehrung bei, die Sterblichkeitsquote sank, die Menschen lebten etwas länger. Die technische Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktion verbesserte die Ernährungsverhältnisse. Unbewohnte Gebiete, bessere Lebensbedingungen haben die Einwohner aus den benachbarten Ländern, vor allem aus der Moldau und der Walachei, gleichsam angesogen. Die ethnische Karte des Landes hat sich verändert. In dem auch bislang von mehreren Nationalitäten bewohnten Land lebten außer den einheitlichen Blöcken verschiedener Nationen Slowaken, Kroaten, Deutsche und Ungarn in großen Gebieten gemischt. In Siebenbürgen erlangte in jener Zeit gemessen an der Zahl der ungarischen und sächsischen Einwohner die rumänische Bevölkerung das zahlenmäßige Übergewicht. 71 Die wirtschaftlich-gesellschaftliche Struktur Ungarns war schon bisher von der Agrarbevölkerung dominiert worden. Durch den sprunghaften Anstieg der Bevölkerungszahl verschoben sich die Proportionen noch stärker zugunsten der Landbewohner, des Bauerntums. Ein erheblicher Teil des Bauerntums, kaum weniger als eine Million Menschen, lebte in Marktflecken. 7 " Die Einwohnerzahl der königlichen Freistädte außer Preßburg wuchs bis zum letzten Drittel des Jahrhunderts nicht erheblich, sie blieb unter einer halben Million. Buda und Pest nahmen erst in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts eine schwungvolle Entwicklung. 73 Der Adel, der 5 Prozent der Bevölkerung ausmachte, war nach Vermögen, Status, Herkunft, Amt und geographischer Lage innerhalb des Landes noch mehr geteilt. 74 Die kaum etwas mehr als hundert ungarischen Magnatcnfamilien waren von den über eine einzige Leibeigenenfamilie verfügenden oder den besitzlosen Massen 3—400 000 niederen Adligen durch gewaltige Unterschiede getrennt. Auch der über mittelgroße Besitztümer verfügende mittlere Adel wurde durch zahlreiche Umstände weiter aufgegliedert; so z. B. je nachdem, ob dessen Angehörige im nordöstlichen Landesteil, einer Weinbauregion am Fuße des Tokajer Hügellandes oder im Einzugsgebiet von Wien lebten; ob sie ihr Juristendiplom an der Universität von Nagyszombat (Tyrnau), die später nach Buda übersiedelte, erlangt hatten oder an ausländischen Universitäten; ob sie Katholiken oder Protestanten waren; ob sie sich in Industrie oder Handelsunternehmen versuchten oder von den Diensten der Leibeigenen lebten. Auch die Möglichkeiten gestalteten sich unterschiedlich. Neuere Forschungsergebnisse weisen aber auch innerhalb des Adels eine starke Mobilität nach. Die Wege der Karriere öffneten sich durch das Militär, die Ämter und durch die Laufbahn der Intellektuellen weiter. Vor der Toleranzverordnung Josephs II. (1781) konnten öffentliche Ämter nur von Katholiken bekleidet werden. Die kirchlichen und weltlichen hohen Ämter wurden von den Söhnen alter Familien besetzt gehalten, die Pálffy, Batthyány und Esterházy sind die Palatine, Erzbischöfe. Kanzler und Landesrichter. Der dem mittleren Adel entstammende András Hadik erreicht den Rang des Präsidenten des Hofkriegsrates (1774). Im Präsidentensitz des Statthalterrates folgen ein Ungar dem anderen. Bis hierher führt der Weg von Kristóf Niczky aus den Reihen des mittleren Adels mit seiner juristischen Bildung über das Amt des Obergespans und den Grafenrang. Mit ihrer Lebensform und ihren Bildungsansprüchen werden sie in die Wiener Regierungskreise integriert. Viele erhöhen die Zahl der Hofaristokratie, sie leben in Wien. Die Werthierarchie der meisten von ihnen löste sich aber von den heimischen Traditionen nicht los.' 5 Die kalvinistischen und lutherischen Adelsfamilien wachten mit besonderer Sorgfalt über die Erziehung ihrer Söhne. Sie wahrten ihre Traditionen, könnten sich aber nur in den Komitaten, im Kirchen- und Bildungswesen betätigen. Eine der begabtesten Gestalten der protestantischen Aristokratie Siebenbürgens, der die öffentlichen Ämter verschlossen waren, war József Teleki, dessen Leben ein Beispiel für die widerspruchsvollen Möglichkeiten des ungarischen Adels ist. Von seiner Westeuropa-Reise (1759—1761) kehrte er als Schüler von Bernoulli, bereichert mit den Erfahrungen des holländischen und französischen wissenschaftlichen und städtischen Lebens, mit den Ideen der französischen Aufklärung heim, für seine Denkweise war die Verflechtung von Europäerturn und adligem Patriotismus charakteristisch. Er baute dauerhafte Kontakte zu Kanzler Kaunitz aus, der, im aufgeklärten Geist, die bürgerlichen Reformen des Reichs vorbereitete und war eng mit Karl von Zinzendorff befreundet, lehnte aber die Bildungspolitik des aufgeklärten Absolutismus ab. Sein Lebenswerk blieb ein Torso. 76 Im Laufe des 18. Jahrhunderts hat sich die Welt völlig verändert. In den langen Jahrzehnten des Friedens stellten sich in Ungarn erhebliche Veränderungen ein. Die rationelle, betriebsmäßige Landwirtschaft fand Verbreitung, die Manufakturen waren erschienen, der Bergbau wurde effizient. Das Schulwesen erlebte einen Aufschwung, die städtische Lebensform entwickelte sich, eine neue Intelligenz war herangewachsen. Eine neue Literatur war im Anzug, das Verlagswesen kam in Schwung, und es erschien die Presse, berufen, die breitere Öffentlichkeit zu informieren. 77 Und dennoch geriet Ungarn gemessen an Europas westlichen Nationen ins Hintertreffen. Über die Steuerfreiheit des Adels war die Zeit längst hinweggegangen. Die Adelsinsurrektion hielt bereits Zrínyi Mitte des 17. Jahrhunderts für unzeitgemäß, zu Napoleons Zeiten war sie ein Anachronismus. Das System der Leibeigenschaft stand wie ein gewaltiges Hindernis vor den Anforderungen der landesweiten Entwicklung. Industrie und Handel verlangten eine intensive Entwicklung, die gesellschaftlichen Veränderungen eine neue Koordinierung der Interessen, eine selbständige staatliche Politik, eine Nationalarmee, eine moderne Verwaltung, muttersprachliche Wissenschaft, muttersprachliche Institutionen und Literatur. Die moderne Verknüpfung von gesellschaftlicher und nationaler Entwicklung ist eine