Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 50. (2003) - 200 Jahre Russisches Außenministerium

MUELLER, Wolfgang: Sowjetbesatzung, Nationale Front und der „friedliche Übergang zum Sozialismus“. Fragmente sowjetischer Österreich-Planung 1945–1955

Berliner Konferenz zeigte, dass Molotov weniger zu Konzessionen bereit war als das glücklose Gespann Malenkov-Berija. Bald begann aber Chruscev das außenpolitische Monopol Molotovs in Frage zu stellen, setzte bilaterale Verhandlungen mit der österreichischen Bundesregierung durch und drängte gegen den Widerstand Molotovs zum Staatsvertrag.99 Der Aufbau des Sozialismus durch die KPÖ mit Unterstützung der Sowjetbesatzung scheint für Chruscev keine Option gewesen zu sein; nach der Lösung der Triest-Frage und der österreichischen Zusicherung, neutral zu bleiben, war es sein erklärtes Flauptanliegen, das Verhältnis zu Österreich zu entspannen und die veralteten sowjetischen Betriebe im Land loszuwerden. Auch die ideologische Überlegung, dass die UdSSR als sozialistisches Land keine Unternehmen im Ausland besitzen sollte, und das Ziel, durch den Abzug aus Österreich Sympathien für die Sowjetunion zu gewinnen und freie Hand für Propaganda gegen die amerikanische Militärpräsenz in anderen Staaten zu erhalten,100 wurden von Chruscev als Beweggründe genannt. Er betonte außerdem, dass die KPÖ ihre Zustimmung zum sowjetischen Abzug gegeben habe und dieser im Bewusstsein erfolgt sei, dass die österreichischen Kommunisten weiterhin marxistische Propaganda verbreiten würden.101 Unerwähnt ließ Chruscev das (nach dem NATO-Beitritt der BRD umso gewichtigere) sicherheitspolitische Kalkül, dass der Staatsvertrag auch die Westmächte zum Rückzug zwang, ferner die Normalisierung der Beziehungen zu Jugoslawien erleichterte, und dass die Unterzeichnung des Warschauer Paktes das sowjetische Risiko hinsichtlich einer Desintegration Ungarns aus der sowjetischen Einflusssphäre deutlich reduziert hatte.102 Molotov kritisierte dennoch später den sowjetischen Abzug aus Österreich als .Abenteurertum“,103 konnte ihn aber offenbar nicht verhindern. Seine Rolle im Entscheidungsprozess dürfte jene gewesen, die er auch in der späten Stalin-Zeit gespielt hatte: die eines nützlichen Werkzeugs. Zusammenfassung Sowohl die präsentierten Dokumente als auch die zitierten Forschungsergebnisse internationaler Historiker belegen klar die sowjetische politische Zielvorstellung für Österreich, an deren Verwirklichung auch die KPÖ und die Besatzung mitzuwirken hatten: den friedlichen Übergang zum Sozialismus. Der 1945 eingeschlagene Weg Sowjetbesatzung, Nationale Front und der „friedliche Übergang zum Sozialismus“ Zubok - Pleshakov, Inside the Kremlin’s Cold War, S. 171-181. 100 Stourzh, Um Einheit und Freiheit, S. 480-484 weist in diesem Zusammenhang auf den sowjetischen Verzicht auf die Militärbasen in Port Arthur und Porkkala-Udd hin. 101 Chruscev, Nikita S.: Vospominanija: Vremja, Ljudi, Vlast’ [Erinnerungen: Zeit, Menschen, Macht], 4 Bde. Moskau 1999, Bd. 3 S. 211-220. 102 Stourzh,Um Einheit und Freiheit, S. 464-466. Der ungarische Austritt aus dem Warschauer Pakt 1956 führte zur sowjetischen Militärintervention und gewaltsamen Wiedereingliederung Ungarns in den Ost-Block. 103 Resis, Albert (Hrsg.): Molotov Remembers: Inside Kremlin Politics: Conversations with Feliks Chuev. Chicago 1993, S. 66. 155

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