Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 48. (2000)
RAUSCHER, Peter – STAUDINGER, Barbara: Der Staat in der frühen Neuzeit. Überlegungen und Fragen zu aktuellen Neuerscheinungen der deutschen Geschichtswissenschaften
Häpke bereits 1925 vorgeschlagen, zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Reich und Territorien für das Reich den Begriff „Rahmenstaat“ zu verwenden.12 Es mag am persönlichen Geschmack des einzelnen Forschers und letztendlich an dem der wichtigsten Vertreter des Faches liegen, ob der Begriff des „komplementären Reichs-Staats“'3 oder der des „Rahmenstaats“ für eingängiger gehalten wird. Bevor man sich jedoch für die Übernahme von Begriffen, die nicht der Quellensprache entstammen, entscheidet, ist zunächst die Frage zu stellen, ob man das Heilige Römische Reich überhaupt als „Staat“ bezeichnen sollte? Gute Gründe, dies nicht zu tun, lieferte bereits Fritz Hartung im Kontext des oben geschilderten Flrteils Pufendorfs über die Nichtkategorisierbarkeit der Reichsverfassung: Die neuere Rechtswissenschaft will dieses [= Pufendorfs] Urteil nicht gelten lassen und bemüht sich nachzuweisen, daß das Reich bis zuletzt staatlichen Charakter gehabt habe. Das ist unzweifelhaft richtig; nur trägt das Wort Staat zur Erkenntnis des Wesens des Reiches im 17. und 18. Jahrhundert nicht bei, denn das Reich war eben kein mit andern gleichzeitigen Staaten vergleichbares Gebilde, sondern ein in den Formen früherer Zeiten erstarrter Staat.14 Die Klassifizierung des Reichs als „Staat“ wird also nicht der Verfassung des Reich gerecht, weil der Begriff mehr verschleiert als erhellt. Dieses Problem wird auch bei Schmidt deutlich, der seinen Staatsbegriff entsprechend weit fasst. Er geht davon aus, dass „Staat“ bereits im Mittelalter und auch in der frühen Neuzeit vorhanden ist, dessen Intensität („Verstaatung“, „Staatsbildung“) allerdings noch zunimmt: „Der frühneuzeitliche Staat ist Zustandsbeschreibung für vergleichsweise differenzierte Gemeinwesen, bleibt jedoch auch Prozess- und Zielkategorie.“ Ein Argument, überhaupt schon vom „Staat“ reden zu können, liefert Schmidt mit der Überlegung, dass auch die von Bodin entwickelte „Denkfigur des souveränen Herrschers bzw. Staats“, nicht einmal im Frankreich Ludwigs XIV. realisiert werden konnte: Dennoch wird vernünftigerweise niemand bestreiten, daß Frankreich zu dieser Zeit ein Staat war. Warum sollte das politische System Deutschlands [1] nicht so bezeichnet werden dürfen? (S. 43). Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 48/2000 - Rezensionen 12 Häpke, Rudolf: Reichswirtschaftspolitik und Hanse nach den Wiener Reichsakten des 16. Jahrhunderts, ln: Hansische Geschichtsblätter 30 (1925), S. 164-209, hier S. 176. Zur Problematik seiner Begriffsbildung siehe ebenda. Dieser Aufsatz scheint auch nicht in dem Artikel von Schmidt, Georg: Städtehanse und Reich im 16. und 17. Jahrhundert, ln: Niedergang oder Übergang? Zur Spätzeit der Hanse im 16. und 17. Jahrhundert, hrsg. von Antjekathrin Graßmann. Köln-Weimar-Wien 1998 (Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte N. F. XLIV), S. 25-46, auf. 13 Für die nicht voll ausgeprägte Staatlichkeit des Reichs eine aus dem 17. oder 18. Jahrhundert entlehnte Schreibung mit Bindestrich als „Reichs-Staat“ vorzuschlagen, die diesen Hybridzustand orthographisch zum Ausdruck bringen soll, kann unseres Erachtens kaum im Sinne geschichtswissenschaftlicher Begriffsbildung sein. 14 Hartung, Fritz: Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 9. Aufl. Stuttgart 1969, S. 150, Hervorhebung durch die Verfasser. 410