Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 48. (2000)
LILLA, Joachim: Die Vertretung Österreichs im Großdeutschen Reichstag
Die Vertretungen im Grossdeutschen Reichstag übrigens ein schönes Beispiel für die „Polykratie der Eingliederungsinstanzen“9. Dabei war eine Volksabstimmung staatsrechtlich eigentlich überflüssig: der Anschluss war bereits vollzogen. Es handelte sich hierbei zwar nur um die zelebrierte Massenapprobation für einen historischen Erfolg der NS-Bewegung, aber auch konkret um die Erzeugung des Scheins völkerrechtlicher Legitimität dem kritischen Ausland gegenüber.10 Mit der Übernahme des Gedankens der Volksabstimmung wurde übrigens eine Idee pervertiert, mit der Bundeskanzler Schuschnigg am 9. März 1938 - mit der Ankündigung der für den 12. März angesetzten Volksabstimmung „für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich“ - die Unabhängigkeit Österreichs in quasi letzter Minute retten wollte. Diese Ankündigung war dann bekanntlich der letzte Auslöser für den „Anschluß“. Die österreichische Bundesregierung erließ am 15. März 1938 die „Verordnung zur Durchführung der Volksabstimmung am 10. April (Abstimmungsverordnung)“'1, in der der Kreis der Stimmberechtigten festgelegt wurde: Alle spätestens am 10. April 1918 geborenen Männer und Frauen, die die österreichische Bundesbürgerschaft besitzen oder nach 1933 ausgebürgert wurden oder ihre österreichische Bundesbürgerschaft durch Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit verloren haben. Ausgenommen vom Stimmrecht war, „wer Jude ist oder als Jude gilt“. Ausgeschlossen von der Ausübung des Stimmrechts waren vor allem Personen, die entmündigt waren, die während der letzten fünf Jahre „wegen eines gemeinen Verbrechens“ rechtskräftig verurteilt waren oder sich in Straf- oder Untersuchungshaft oder im Arbeitshaus befanden. Gauleiter Bürckel schuf innerhalb kürzester Zeit - quasi aus dem Nichts - „einen gewaltigen Organisationsapparat“ zur Vorbereitung der Volksabstimmung bzw. Reichstagswahl12. Unter Vernachlässigung des Aufbaus von Organisationsstrukturen der NSDAP, die in Österreich nur (noch) rudimentär vorhanden waren, setzte er eine ganze Hierarchie von ihm abhängiger Abstimmungsbeauftragter ein - von der Ebene der Bundesländer (Gauwahlbeauftragte) bis zu den Kreisen (Kreiswahlbeauftragte) und Gemeinden. Als Gauwahlbeauftragte wurden eingesetzt: Dr. Tobias Portschy (Burgenland), Franz Kutschera (Kärnten), Dr. Roman Jaeger (Niederösterreich), August Eigruber (Oberösterreich), Toni Wintersteiger 9 Botz, Gerhard: Die Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich. Planung und Verwirklichung des politisch-administrativen Anschlusses (1938-1940), 3. Aufl. Wien 1988 (Schriftenreihe des Ludwig-Boltzmann-lnstituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 1), S. 49. 10 Hags p i e 1, Hermann: Die Ostmark. Österreich im Großdeutschen Reich 1918-1945. Wien 1995, S. 35. 11 Nach Pfeifer: S. 72-74. Diese Verordnung wurde in der Folgezeit noch zweimal geändert. 12 Vgl. Hagspiel: S. 36, auch zum folgenden; ferner: Luza, Radomir: Österreich und die großdeutsche Idee in der NS-Zeit. Wien-Köln-Graz 1977 (Forschungen zur Geschichte des Donauraumes 2), S. 50 f. 231