Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 48. (2000)
GRÖBL, Lydia – HÖDL, Sabine – STAUDINGER, Barbara: Steuern, Privilegien und Konflikte. Rechtsstellung und Handlungsspielräume der Wiener Juden von 1620 bis 1640. Quellen zur jüdischen Geschichte aus den Beständen des Österreichischen Staatsarchivs
Steuern, Privilegien und Konflikte Für die hier behandelte Fragestellung sind weniger der tatsächliche Fiergang des Prozesses als vielmehr die rechtlichen Möglichkeiten von Interesse, die - in diesem Fall - Lew Kallstatt zur Durchsetzung seiner Interessen nutzte. Darüber hinaus rücken die verschiedenen Ebenen der kaiserlichen Jurisdiktion in den Mittelpunkt der Fragestellung. Die Rechtsstellung der beiden Holjuden einerseits sowie die Kompetenzen und Zuständigkeiten der Gerichte andererseits definieren hierbei den Rahmen der Rechtsprechung. Der Kläger, Lew Kallstatt, war zu Beginn des Prozesses am Reichshofrat vom Wiener Stadtrichter bereits verurteilt worden und damit rechtlich wie - aus seinem Haus und der Stadt verbannt - persönlich in einer überaus schlechten, wenn auch nicht aussichtslosen Position. Als Hofjude wandte er sich zunächst direkt an die kaiserlichen Behörden, an erster Stelle an den Obersthofmarschall, Graf Wolf Sigmund von Losenstein, den er über die rechtswidrige Verurteilung durch den Stadtrichter und seine Verbannung aus der Stadt in Kenntnis setzte und um Schutz und Schirm bat.172 Gleichzeitig wandte er sich an den Kaiser selbst. In einer Supplikation an Ferdinand II., die dem Reichshofrat vorgelegt wurde, verweist Kallstatt vor allem auf seine Rechte als Hofjude und argumentiert — neben seiner Unschuldsbeteuerung dass einmal erworbene Freiheiten nicht auf Grund unbewiesener oder rechtsungültiger Tatsachen zurückgenommen werden dürften. Er aktualisierte damit das besondere Verhältnis zwischen dem Reichsoberhaupt und ihm als hofbefreiten Juden, das durch den kaiserlichen Schutz und Schirm gekennzeichnet war.173 Diese Strategie fruchtete insofern, als dass der Kaiser nun verpflichtet war, sich mit dem Prozess auseinander zu setzen. In einem Dekret Ferdinands II. an den Obersthofmarschall wurde die Argumentation Kallstatts aufgegriffen und zum einen eine Untersuchung des Privilegienstreits angeordnet, in der die Abschriften der Hofbefreiung der anderen bei Abraham Ries miteingetragenen Personen verglichen werden sollten; zum anderen sollte das Urteil des Stadtrichters, das ohne Wissen des Obersthofmarschalls ergangen war, zurückgenommen und Kallstatt vorerst ein Geleit- und Schutzbrief ausgestellt werden,174 bis dessen Schuld oder Unschuld geklärt sei. Die Leitung der weiteren Untersuchung zur Wiederaufnahme des Prozesses wurde zwei Reichshofräten, den Juristen Konrad Hildbrandt und Johann Wenzel,175 übergeben.176 172 HHStA, RHR, Revisiones, Kart. 9/2, Hofmarschallische Gravamina betreffend Abraham Ries und Lew Kallstatt (1624), unfol., o. O. [Wien], 19. Februar 1624, Supplikation von Lew Kallstatt an den Obersthofmarschall. 173 Ebenda, unfol., o. O. [Wien], o. D. [Aktenvermerk 8. März 1624], Supplikation von Lew Kallstatt an Ferdinand II. 174 Dieser erfolgte bereits am 26. März. HFlStA, RF1R, Geleitbriefe, Kart. Nr. 4 (J-L), fol. 135-136', Wien, 26. März 1624. 1,5 Zu Herkunft, Ausbildung und Tätigkeit der beiden Juristen am RHR siehe Gschließer: Reichshofrat (wie Anm. 14), S. 205 f. Dort sind auch andere mögliche Schreibweisen der Namen angegeben. 185