Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 46. (1998)
EMINGER, Stefan: Gewerblicher Mittelstand in Österreich Zur Zeit der großen Depression. Organisation, Interessenpolitik und politische Mobilität im Gewerbe 1930–1938
Stefan Eminger Als Spitzenorganisation der freien Vereine des österreichischen Gewerbes war 1920 der „Reichs-, Handels- und Gewerbebund“ ins Leben gerufen worden. Gegründet auf Initiative des christlichsozial orientierten „Deutschösterreichischen Gewerbebundes“, war es trotz politischer Differenzen gelungen, auch die betont national ausgerichteten alpenländischen Hagebünde in diesen Dachverband miteinzubezie- hen.23 1925 umfaßte er sämtliche „Landesbünde“ und wies angeblich 80 000 Mitglieder auf.24 Im Gegensatz zu den Pflichtgenossenschaften, in denen zumeist die Inhaber von Klein- und Alleinbetrieben dominierten, waren in den freien Verbänden vorwiegend Inhaber größerer Gewerbebetriebe vertreten.25 Gemeinsam war allen freien Organisationen des Gewerbes, daß in ihnen auch Kaufleute vertreten waren und ausnahmslos Männer Ämter und Funktionen bekleideten, obwohl z. B. in Wien mehr als ein Fünftel der Mitglieder der gewerblichen Pflichtgenossenschaften Frauen waren.26 Des weiteren war gerade bei den mitgliederreichsten freien Gewerbeverbänden der satzungsgemäß verankerte Antisemitismus üblich. Bis auf wenige Ausnahmen führten die meisten freien Organisationen des Gewerbes den „Arierparagraphen“ in ihren Statuten.27 Interessenpolitik im Gewerbe bis 1933/34 Während der parlamentarischen Phase der Ersten Republik bildete der Dachverband der Pflichtgenossenschaften, der HVGVÖ, den wichtigsten Einflußkanal gewerblicher Interessenvertretung. Einige der in ihm zusammengeschlossenen Landeshauptverbände besaßen enge Verbindungen zu den entsprechenden Landesregierungen,28 und mit dem vormaligen Gewerbereferenten im Handelsministerium, Dr. Emst Stadler, als Syndikus hatte der HVGVÖ einen Spitzenfunktionär gewinnen können, der über wertvolle Kontakte zur Ministerialbürokratie verfügte.29 Umgekehrt wurde der HVGVÖ von Regierung und Verwaltung vielfach zur Stellungnahme aufgefordert und entsandte seine Vertreter in diverse Beiräte, Kommissionen und Enqueten.30 SR, Sign. 15/4, GZ 123.285/1932, Verband der sozialdemokratischen Gewerbetreibenden und Kaufleute Österreichs in Wien; Statutenänderung. 23 AdR, Staatsamt für Inneres und Unterricht, SR, Sign. 15/4, GZ 49.616/1920, Reichs- Handels- und Gewerbebund; Gründung. 24 AdR, Parteiarchive/Großdeutsche Volkspartei [ParteiA/GDVP], Zeitungsausschnitte, Materie, Mappe 157, Sign. 33/c, Reichspost (23. September 1925). 25 AdR, ParteiA/GDVP, Zeitungsausschnitte, Materie, Mappe 157, Sign. 33, Österreichische Sonntags- Zeitung (4. Jänner 1925). 26 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1929, hrsg. von der Magistratsabteilung filr Statistik. N.F. 1. Wien (1930), S. 151-153. 27 Em inger: Gewerbepolitik, S. 160. 28 Der Hauptverband 1921-1931, S. 57, 63. 29 Ebenda, S. 9. 30 AdR, BMfHuV/allg, Sign. 501, GZ 129.234/1929, Kt. 2561, Deutsch-österreichischer Gewerbebund; Begutachtung von Gesetzes- und Verordnungsentwürfen. 4