Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 45. (1997)
AMMERER, Gerhard: Der letzte österreichische Türkenkrieg (1788–1791) und die öffentliche Meinung in Wien
Gerhard Amraerer Und die öffentliche Meinung? Nur fragmenthaft sind Einsichten in die Meinung(sbildung) einer breiten Öffentlichkeit bzw. die Widerspiegelung der öffentlichen Meinung durch Schrift, Wort (Lied) und Bild möglich. Leseräußerungen sind rar, bei zeitgenössischen Leserbriefen ist die Echtheit zumeist anzuzweifeln. Einen weiteren Zugang zu den anfangs thematisierten Fragen, auch nach den Trägern der öffentlichen Meinung, bieten punktuelle Auskünfte über die Breite der Rezeption und des Diskurses sowie die wenigen Aussagen von Zeitgenossen über die herrschende Stimmung in Wien. Nicht nur bei Pezzl, der den Vorgang der nicht immer ganz friedvollen „Meinungsbildung“ im Wirtshaus ironisch beschreibt (s. o. ), auch in anderen zeitgenössichen Bonmots wird auf die Heftigkeit, mit der vor allem 1788 die Diskussion unter der Bevölkerung geführt wurde, hingewiesen: „Das ist ja ein Lermen, ein Getöse für den Türken, wider den Türken; für den Kaiser, wider den Kaiser; - da giebts Disputaten, Zänkereyen, - Raisonniren, Deraissoniren ccl45 Neben der steigenden Beliebtheit von Löschenkohl-Türkenstichen fanden auch kritische Broschüren und Berichterstatter-Schriften teilweise reißenden Absatz. Rautenstrauch, dessen offiziöses „Kriegstagebuch“, wie erwähnt, aus mangelndem Kaufmteresse einging, echauffierte sich fürchterlich über den erfolgreichen Konkurrenten „Unpartheyischer geographisch=historischer Kriegsweiser“: „Ists möglich? Ist es möglich, frage ich, daß in dem aufgeklärten Wien ein in der hol- pemdsten imdeutlichsten Sprache dahin gekleckstes mit dem erbärmlichsten Unsinn vermischtes Blat so viel Abnehmer finden konnte, daß der Herausgeber sogar im Stande war, ein eigenes Expeditionskomtoir desselben zu errichten?“* 146 Der Andrang des Leserpublikums scheint in der Tat so groß gewesen zu sein, daß sogar eine Art Optionsschein für den Kriegsweiser aufgelegt wurde, mit dem man sich jeden Freitag um 18 Uhr das neueste Exemplar bei der zentral gelegenen „kleinen Briefpost Oberexpedition“ in der Wollzeile abholen konnte147. Das große Interesse an den aktuellen militärischen Ereignissen beschränkte sich im übrigen nicht auf Wien. In einem im „Patriotischen Blatt“ abgedruckten (wohl echten) Leserbrief aus Scheibbs wird im September 1788 bittere Klage darüber geführt, daß seit der Kriegserklärung die Versorgung des eigenen Marktes und weiterer Ortschaften der Umgebung mit der offiziellen Wiener Zeitung, vor allem mit deren Sonderbeilagen zum Türkenkrieg, nicht mehr funktioniere. Als Grund dafür wird vermutet, daß der Verleger, der sich der Abonnements auf dem Lande ohnehin sicher sein könne, die Extrablätter - offenbar der großen Nachfrage entsprechend - in Wien „dem nächsten Besten“ verkaufen würde und das den ländlichen Raum vernachlässige148. Die Zeitungskaufwut in der Residenzstadt beschreibt auch RautenNeueste Wiener Nachrichten vom 1. Oktober t788, S. 4. 146 Rautenstrauch: Ausführliches Tagebuch. 4. Heft, S. 381 f. 147 Darauf verwiesen wird jeweils auf den Titelblättern des Unpartheyischen, geographisch=historischen Kriegsweisers, 1788. 148 Patriotisches Blatt. 2. Heft, S. 322(Zuschriftvom20. September 1788). 82