Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 44. (1996)

ANGELOW, Jürgen: Der Zweibund zwischen politischer Auf- und militärischer Abwertung (1909-1914). Zum Konflikt von Ziel, Mittel und Struktur in Militärbündnissen

Jürgen Angelow galt. Zusätzliche Rüstungsanstrengungen waren unter diesen Voraussetzungen nur schwer zu begründen. Die außen- und sicherheitspolitische Situation des Reiches verschlechterte sich mit der ersten Marokkokrise 1905 und der Konferenz von Algeciras 1906 dra­matisch. Auf Grund dessen trat Reichskanzler Bernhard von Bülow für verstärk­te, kontinuierliche und geräuschlose Heeresrüstungen ein. Doch die Initiative des Reichskanzlers, der am 1. Juni 1906 gegenüber Kriegsminister Karl von Einem - dem typischen Vertreter der konservativen Linie - formulierte, das Schicksal Deutschlands werde sich „zu Lande“ entscheiden30, wurde von diesem nicht aufgegriffen. Einem vertrat den Standpunkt, daß „die Zeit für außeror­dentliche Maßregeln“ erst gekommen sei, wenn „das Gefühl der Kriegsbesorgnis in weilen Bevölkerungsschichten Platz greifen und von den verantwortlichen Stellen als gerechtfertigt angesehen“ würde31. Zwar kam es auf Betreiben des Generalstabes ab Ende 1905 noch zur beschleunigten Umrüstung auf die Feld­kanone 96 n/U und das Infanteriegewehr 98, dennoch sah sich Schlieffen bereits in seiner Denkschrift vom Dezember 1905 sowie in späteren Schriften zur Ein­sicht gedrängt, daß das deutsche Reichsheer zahlenmäßig den Anforderungen eines künftigen Krieges nicht mehr gewachsen sei32. Sein Nachfolger Helmuth von Moltke d. J. mischte sich nicht in das Ressort des Kriegsministers ein. Wie Schlieffen vor ihm, plante auch er bei der Umsetzung der Operationspläne, min­der kampfkräftige Reservedivisionen neben aktiven Verbänden in die Angriffs­front einzureihen. Weder die krisenhafte Zuspitzung der europäischen Szenerie nach der Annexion Bosnien-Herzegowinas 1908 noch die darauffolgende russi­sche Militärreorganisation unter General Vladimir Aleksandrovic Suchomlinov führten im Deutschen Reich zu einer ins Gewicht fallenden Heeresverstärkung. Erst nach der zweiten Marokkokrise 1911, dem Fortschrciten der russischen Armeereorganisation, dem offenen Hinzutritt Englands zur französisch­russischen Allianz, der forcierten Auslastung der französischen Ressourcen durch Heranziehung von Kolonialverbänden, der nach wie vor stagnierenden österreichisch-ungarischen Rüstungen sowie der verbesserten Finanzlage des Deutschen Reiches, kam es zu einer Verschiebung der Prioritäten von Flotten- und Heeresrüstung sowie zu bedeutenden Anstrengungen auf dem Rüstungssek­tor. Zu diesem Zeitpunkt war die Diskrepanz zwischen den rüstungspolitischen Voraussetzungen des Reiches und seiner offensiven Opcrationsplanung nach zwei Seiten längst unüberbrückbar und offenkundig geworden. Zwar verbesserte sich infolge der großen Heeresvorlagen von 1912 und 1913 die rüstungspoliti- sche Situation Deutschlands schlagartig, von einer vollen Durchsetzung der 30 Einem, Karl von [gen. von Rothmaler]: Erinnerungen eines Soldaten 1853 bis 1933. Leipzig 1933, S. 100 (Bernhard von Bülow an Karl von Einem, 1. Juni 1906). 31 BA-MZA Potsdam, W-10, 50200, fol. 64 (Deutsche Kriegsrüstung 1871-1914). 32 Schlieffens große Denkschrift vom Dezember 1905 siehe Ritter, Gerhard: Der Schlieffenplan. Kritik eines Mythos. München 1956, S. 145-160, hier S. 153; aus den Fragmenten Stück 7 Rit­ter: Der Schlieffenplan, S. 172-173, hier S. 173. 38

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