Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 41. (1990)

BROUCEK, Peter: Ungedruckte Prüfungsarbeiten aus Österreich zur österreichischen Militärgeschichte bis 1988

Rezensionen eine rein militärische Neutralität sein, und zwar in einem Staat, in dem die Politiker immer beim Budgetposten Bundesheer zu sparen begannen? Oder sollte es eine Gesin­nungsneutralität der Äquidistanz zu Ost und West sein? (Rauchensteiner charakterisiert Raab 1956 als „Isolationisten“, S. 359). Die Lösung des Südtirol- und des Slowenenpro­blems stand an. Die Diskussion um den Beitritt zu EWG oder EFTA brandete lang hin und her. Die Integrationskraft der früheren Fixpunkte Staatsvertrag und Befreiung von den „Befreiern“ hielt die Koalitionäre nicht länger zusammen. So übten sich die beiden großen politischen Parteien vor allem während der post-Raab- Phase (1961-1966) in der traditionellen Politik des „Fortwurschteins“ - außer der Schul­reform von 1962 gab es kaum positiv gestaltende Politik. Franz Olah begann sein „Tech­telmechtel“ mit der FPÖ, das System des Proporzes wurde weiter perfektioniert. Die Politik befaßte sich hauptsächlich mit der Vergabe von Pfründen; Diskussionen um Re­form und Innovation wurden nur von einigen „Jungtürken“ wie dem späteren Bundes­kanzler Josef Klaus geführt. Mit dem Hinscheiden der Gründerväter Raab und Schärf, Figl und Helmer, war es denn auch um die Große Koalition geschehen. Rauchensteiner ist sich voll bewußt, daß er sich als Zeitgeschichtler mit der Periode 1955-1965 aufs Glatteis begibt. Ohne einschlägiges Aktenmaterial (in Österreich ist dieses nicht einmal für die Besatzungsjahre zugänglich) wagt er einen ersten mutigen Überblick. Ähnlich wie bei seinem Vorgängerprojekt Der Sonderfall (1979) für die Pe­riode 1950 bis 1955, beruht seine Forschung für die Zeit nach 1955 auf spärlichen Pri­märquellen. Aus dem Figl-Nachlaß läßt sich aber ebensowenig die österreichische Poli­tik rekonstruieren, wie aus einigen wenigen Dokumenten des „National Security Coun­cil“ die amerikanische Politik gegenüber Österreich. Abgesehen von einem faszinieren­den Kapitel zum Jahre 1956, in dem er vor allem zur Garantiefrage der österreichischen Neutralität Neues aus britischen Archiven bietet, kommt er nicht weit über eine Abstek- kung der Themen für die künftige Geschichtswissenschaft hinaus. Unter anderem schneidet Rauchensteiner zwei wichtige Themenkomplexe an, an denen die künftige Forschung nicht vorbeikommen wird: 1) Wie weit haben Institutionen und Mentalitäten aus der Besatzungszeit in der Zeit danach weitergewirkt? Rauchensteiner meint, viele alliierte Einrichtungen seien ein direktes Vorbild für die Große Koaliton gewesen (S. 315). 2) Damit zusammenhängend betont er, daß in einer künftigen Periodisierung der Nachkriegsgeschichte die Besatzungszeit nicht streng getrennt von der Zeit nach 1955 gesehen werden kann. Er stellt die Jahre 1953 bis 1960 als die „Ära Raab“ (S. 302) in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Überhaupt ist für Rauchensteiner Julius Raab die dominierende Gestalt der 1945-er Generation. In der Person Raabs, den Rauchensteiner als einen „späten Vertreter des Gottesgnadentums in Österreich“ bezeichnet, wird Rau­chensteiners Methode offenkundig, Geschichte hauptsächlich auf Personen bezogen zu sehen. Hier muß nach Meinung des Rezensenten auch die Hauptkritik an diesem lesens­werten und informationsreichen Werk einsetzen. Es fehlt eine eingehende Kritik des Proporzsystems, geht doch die gegenwärtig weithin vorherrschende Verdrossenheit an der österreichischen Politik - vor allem bei der jünge­ren Generation - auf die „Diktatur“ der Großparteien in den meisten Belangen des öffentlichen Lebens zurück. Diese Dominanz hat ihren Ursprung in der Zeit der Großen Koaliton. Hier müßte die grunsätzliche Frage nach Demokratieverständnis bei den Groß­koalitionären aufgeworfen werden. „Demokratie“ wurde in den von Rauchensteiner be­handelten Jahren meist durch Koalitionsabsprachen und Koalitionsgremien von oben verordnet; das Volk wurde nicht zur direkten Mitgestaltung der Politik aufgefordert. „Demokratisierung“ bedeutet in Österreich folglich bis heute nicht „grass roots“ - also Demokratie von unten kommend -, sondern „Gremialisierung“ (A. Pelinka), sprich die Macht der Ausschüsse. Das wirtschaftliche und soziale Leben wurde mehr von der nicht vom Volke gewählten einzigartigen „Paritätischen Kommission“ bestimmt als vom ge­wählten Parlament. Rauchensteiner konstatiert, daß in der Großen Koalition der „Scheinparlamentarismus“ dominierte, die wirklichen Entscheidungen aber meist in 411

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