Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 41. (1990)
HEPPNER, Harald: Serbien im Jahre 1889 nach einem Bericht Ludwig von Thallóczy's
Serbien im Jahre 1889 Eine Partei sagt: Gott gebe, dass Oesterreich diese Provinzen noch 30- 40 Jahre verwalte; erst dann können wir es nehmen, wenn Oesterreich es zivilisirt hat, sonst gehen wir zu Grunde. Diese letztere Meinung ist sehr richtig. Die zweite Partei (unter Anderen Herrn Pera Todorovic80)) sagt: Oesterreich gebe uns bei einer passenden Gelegenheit, z. B. im Falle eines Krieges, die occupirten Provinzen, dann ist die Militärconvention81) fertig, sonst „mar[s]chiren unsere Bataillone in Syrmien ein; Südungarn geben wir auf, das serbische Element nimmt dort ab, die Intelligenz kommt herüber, das gemeine Volk sei Euer, und Platz haben wir ja für die Auswanderer hier in Serbien genug“. Die dritte Partei will mit der Hülfe Russlands Bosnien einheimsen. Aber keine dieser Schattirungen will Bosnien durch eig[e]ne Kraft nehmen, sie möchten es haben, gewinnen. Der Bauer denkt hierüber ebenso. Bei den Slava(Sippenfest)-Feyerlich- keiten wird immer getrunken: „Heuer hier, das nächste Jahr in Sera- jevo“ (Kreis Uzice u. Cacak82)). Dann wird geschlafen und nächsten Morgen ist alles vergessen. So war es früher mit Constantinopel, jetzt begnügt man sich mit Sarajevo. Herr Mijatovic reizte einen Bauer [!] in meiner Gegenwart mit der Frage: „Wollt ihr Bosnien?“ Der gute Mann antwortete gelassen: „Wenn wirs bekommen - ja, wenn nicht - soils bleiben“ (Ljubostina 28. Juni83)). Laut meinen Informationen kann ich behaupten, dass bis jetzt serbischerseits in Bosnien keine ernste Agitation stattfand84). Hetzartikel, Verse wie der hier beigelegte, einzelne Trinkgelage, vielleicht hie und da ein bosnischer Schmerzensschrei anonym in der Zeitung - dies ist Alles. Ernst bedroht wird Bosnien von den neusatzer Liberalen und Radikalen, und zwar mit Absicht. Herr Polyt85), der abgetakelte und jetzt behäbige Advokat, erkennt z. B. die Objektivi80) Pera Todorovic (1852-1907), serbischer Politiker und Journalist, einer der Gründer der Radikalen Volkspartei, 1886 aus der Partei ausgeschlossen, Publizist („Male No- vine“). 81) Die Bemerkung bezieht sich wohl auf den Artikel VI des Geheimvertrages von 1881, siehe Hauptmann Österreich-Ungarns Werben 234. 82) Stadt am Oberlauf des westlichen Armes der Morava. 83) 1387 gegründetes serbisches Kloster im Moravatal flußabwärts von Kraljevo. 84) Wie sehr man sich von östereichisch-ungarischer Seite dieses Problems bewußt war, zeigt die Politik des für Bosnien-Hercegovina zuständigen Gemeinsamen Finanzministers Benjamin von Kállay, siehe Tomislav Kraljacic Kalajev rezim u Bosni i Hercegovim (Das Källay-Regime in Bosnien und Hercegovina) (1882-1903) (Sarajevo 1987) insbesondere 118f. 85) Mihailo Polit-Desancic (1833-1920), Jurist, PoliUker, Publizist („Branik“), Consi- storial-Fiscal des Bistums Bácska, gehörte dem rechten Flügel der Liberalen bei den ungarischen Serben an. 175