Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 39. (1986)

AUER, Leopold: Historische Friedensforschung (Literaturbericht)

Rezensionen 445 Aus dieser Tendenz macht N. kein Hehl (vgl. S. 710: „salopp gesagt“, oder S. 317 „überpointiert, aber griffig“), doch als Folgen können (manchmal doch sehr weitgehende) Vereinfachungen nicht ausgeschlossen werden; dies ist die Kehrseite des griffigen Erzählens. Darüber hinaus scheint solch leichter Um­gang mit Sprache nicht wenige syntaktische und stilistische Fehler nach sich zu ziehen, die zumindest im Lektorat auszubügeln gewesen wären. So aber findet man Silbentrennungen wie „gros-sen“ (S. 299) und „mo-narchisch“ (S. 320), der Name Lassalle wird - im Gegensatz zur sonstigen Gepflogenheit - mit englischem Genitiv (S. 473 ff) in irritierender Konsequenz geschrieben, und dann erscheinen in einem Satz beide Schreibweisen: „Lassalle’s Arbeiter­verein freilich war für Bismarcks Krieg“ (S. 782 f). Auch die Ausdrücke „allei­ne“ (S. 657), „aufoktroyiert“ (S. 473) oder „ein Prä“ (S. 609) wären zu monie­ren. Ihnen gesellen sich Anglizismen zu wie „Netzwerk“ (S. 327) und „realisie­ren“ (z. B. S. 656, 721, 787). Weiters stößt man auf verdrehte Wendungen, etwa die Erwähnung „die großen Probleme wurden vor sich hergeschoben“ (S. 338), offensichtlich durch spätere Einschübe verworrene Behauptungen, wie ,„die’ europäische Revolution war keine Einheit, gar von einer Verschwörung getra­gen, wie die Konservativen wähnten“ (S. 366), anfechtbare Bilder: „Österreich versuchte, die Furcht der Mittelstaaten vor Preußen (...) auf seine Mühlen zu leiten“ (S. 684 f), oder durch merkwürdige Interpunktion verkehrte Aussagen, z. B. (S. 789): „Aber natürlich ist der durchaus aggressiv-reizbare Nationalis­mus der Franzosen, so wenig wie der der Deutschen, zu bestreiten.“ (Gemeint ist, daß beide nicht zu bestreiten sind.) Dem breiten Publikum als Adressat zuliebe verwendet N., um sich verständlicher zu machen, wieder gern aktuelle Begriffe wie „Establishment“ (S. 31, 356), „Appeasement“ (S. 702) oder die Charakterisierung „Starautorin“ für die Marlitt (S. 235). Aus einer ähnlichen illustrativ-erklärenden Einstellung kommen die aktuali­sierenden engagierten Kommentare, die N. zu Stellungnahmen veranlassen wie: „In einer voll demokratischen Ordnung wäre die Eisenbahn damals nicht gebaut worden“ (S. 192), oder: 1814 „war ein Versöhnungsfriede, wie er wohl nur unter vordemokratischen Bedingungen, fern von populärem Druck, als Friede der Herrscher möglich war“ (S. 89). Dies soll nicht gleich zum Anwurf führen, N. wäre antidemokratisch, selbst wenn er (S. 655) betont, „das liberale Argument, das Wahlrecht politisch unreifer Massen bedrohe die Freiheit, war doch nicht unbegründet. In Frankreich führte es zur Diktatur Napoleons III.“ Die Liberalen und die Mitte überhaupt haben in N. ihren Verteidiger gefunden, was sich deutlich sowohl an der Schilderung von 1848/49 als auch jener von 1862/66 zeigt. Der Autor, der sich nicht scheut (und das keineswegs unberech­tigt), Seitenhiebe gegen ,herrschende“ Lehren auszuteilen — man vergleiche etwa seine wie einen Fehdehandschuh bereits auf der ersten Seite hingeworfe­ne Bemerkung: „Nur wer ideologisch blind ist gegenüber dem Phänomen der Macht und alle Aufmerksamkeit auf die Bewegungen der Gesellschaft und der ,inneren“ Politik und auf die Strukturen konzentriert... “ (S. 11) — , bildet in dieser Hinsicht ein erfrischendes Korrektiv, wie es in einer pluralistischen Gesellschaft notwendig und legitim ist. Selbst wenn man ihm nicht zustimmt, ist es anregend, ihn zu lesen, ist wohl auch manches Überzogene an N’s Äußerungen auf diesen Kampf gegen eine dominierende und oft auch unreflek­tiert nachgebetete Meinung zurückzuführen. Freilich kann das wieder enga­gierte Gegenäußerungen provozieren.

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