Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 38. (1985)

MIKOLETZKY, Lorenz: Zehnter Internationaler Archivkongreß Bonn 1984

Plädoyer für die Kulturgeschichte 427 die heute überall hinsichtlich kultureller Phänomene der Vergangenheit ge­leistet“ wird 4). Das ist aber nur allzu verständlich, wenn wir beispielsweise an den Aus­spruch Jakob Burckhardts „Neben die Staatengeschichte stellt sich eine endlos weite Kulturgeschichte“ 5) denken. Ein endlos weites Gebiet läßt sich nicht durch Definition abgrenzen. Jakob Burckhardt selbst konnte in der praktischen Forschung seine eigene Forderung nicht ganz erfüllen. In der Folge wurde Kulturgeschichte als Gegensatz zur politischen Ge­schichte aufgefaßt und brachte es als solche auch noch in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts zu großem Ansehen und reicher Produktivität. Diese Werke werden heute vielfach negativ beurteilt, indem man ihnen den Ab­stand von Burckhardts Definition vorwirft, ohne darauf einzugehen, was in einzelnen dieser Abhandlungen an Materialfülle und auch an Metho­denreflexion steckt6). Von einer bestimmten Ebene der Wissenschaftlich­keit aufwärts ist Kulturgeschichte in diesem Sinn heute offenbar verpönt. Zugelassen ist einzig die früher sogenannte „materielle Kultur“. Meines Erachtens liegt die Ursache für diese Entwicklung in der Überbetonung der Bedeutung theoretischer Grundlagen für jede Wissenschaft. Für Kulturgeschichte wurde eine zufriedenstellende Theorie bisher noch nicht erstellt; es wurde wahrscheinlich auch noch gar kein diesbezüglicher Versuch unternommen, da die Anhänger der Theoretisierungs-Manie „Kultur“ in dem Sinn, wie sie in „Kulturgeschichte“ gemeinhin verstan­den wurde, für nicht existent halten. I Robert Musils unvergleichlicher Roman Der Mann ohne Eigenschaften enthält eine Szene, die wohl jedem Kenner des Bibliotheksbetriebes un­auslöschlich in Erinnerung bleibt: General Stumm von Bordwehr macht sich mit militärischer Direktheit auf die Suche nach dem „schönsten Ge­danken von der Welt“, der nach seiner Meinung im Umfeld von theolo­gischer Ethik, alter österreichischer Kultur und Franz Grillparzer zu finden sein müsse. Als geschulter Taktiker dringt er in die „feindlichen Reihen“ der Bücher ein und landet dabei im Katalogzimmer der Wiener Hofbibliothek. „Da war ich dann also wirklich im Allerheiligsten der Bibliothek. Ich kann dir sagen, ich habe die Empfindung gehabt, in das Innere eines Schädels einge­treten zu sein; rings herum nichts wie diese Regale mit ihren Bücherzellen, und überall Leitern zum Herumsteigen, und auf den Gestellen und Tischen nichts wie Kataloge und Bibliographien, so der ganze Succus des Wissens, und nir­4) Ebenda 296. 5) Werner Kaegi Jacob Burckhardt 3 (Basel 1956) 372; vgl. auch Lutz Kultur 292. 8) Z. B. Lutz Kultur 293. Vgl. unten S. 438.

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