Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 38. (1985)
LAUBACH, Ernst: „Nationalversammlung“ im 16. Jahrhundert. Zu Inhalt und Funktion eines politischen Begriffes
28 Ernst Laubach inhaltlich oder ob nur verbal an die Vorschläge der zwanziger Jahre angeknüpft wurde. Zu einer nachdrücklichen Initiative dafür sind die Protestanten nicht gelangt, daher fehlen konkretere Angaben von seiten der Politiker über Modalitäten und Aufgaben der Nationalversammlung1. Die meisten Hinweise bieten Briefe Martin Bucers an Landgraf Philipp von Hessen, in denen der Reformator über mehrere Jahre hin diesen Schritt endlich zu tun empfahl, wobei er des öfteren ausdrücklich auf den „Frankfurter Anstand“ Bezug nahm 154). So sind Bucers Vorstellungen nicht neu: Die Teilnahme aller Reichsstände und des Kaisers 155), Einberufung durch letzteren, Vorklärung der Probleme durch paritätische Gelehrtenausschüsse. Besonderen Wert legte er aber darauf, daß die Reichsstände gemeinsam beraten sollten, die Verhandlungen dürften nicht getrennt nach Konfessionen und über den Kaiser verlaufen, die Entscheidungen wären in der Versammlung zu fällen. Nach der Bibel könnten auch das Kirchenrecht, das römische Recht und die Kirchenväter für die Argumentation herangezogen werden, — Bucer und der Landgraf waren davon überzeugt, daß dabei die Übereinstimmung der evangelischen Position mit der alten Kirche erwiesen werden würde. Neben den theologischen Fragen sollten auch die Punkte Kirchengüter und Herrschaftsrechte der Kirche behandelt werden. Bucer hat in seinen Briefen ohne erkennbare Unterscheidung „Nationalversammlung“, „Reichsversammlung“ oder „Nationalkonzil“ verwendet, während Philipp von Hessen in seinen Antworten nur den ersten Begriff gebraucht hat156). Ein Trend zur Koinzidenz der Begriffe wird bei evangelischen Theologen schon früher sichtbar 157 * *) — als Folge ihrer präziser gewordenen neuen Konzilsauffassung, die in der schlagwortartigen Formulierung „freies christliches Konzil in deutschen Landen“ zusammenge115; Luttenberger Glaubenseinheit 86 Anm. 263). Vgl. auch den bei Otto Meinardus Die Verhandlungen des Schmalkaldischen Bundes vom 14 — 18. Februar 1539 in Frankfurt a. Main in Forschungen zur Deutschen Geschichte 22 (1882) 651 f abgedruckten Verhandlungsbericht und den Bericht über eine Konferenz hessischer, Straßburger und Ulmer Räte in Briefwechsel Landgraf Philipps des Großmütigen von Hessen mit Bucer, hg. von Max Lenz, 3 Bde (Leipzig 1880—91) hier 1 158 Anm. 8. 15<) Ebenda 1 73 ff, 90 ff, 125 ff, 141 ff, 145 ff, 151 ff, 162 ff, 168 ff; 2 32 ff, 88 ff. 155) In seiner Kirchenordnung für die Kurmark von 1540 hat Joachim II. ebenso unterstellt, daß alle Reichsstände zu einer .Nationalversammlung“ gehören; vgl. Die Evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts 3, hg. 166) Lenz Briefwechsel 1 143 f, 147 ff, 161; bei letzterem Stück hat Lenz im v. Emil S e h 1 i n g (Leipzig 1909) 40. Regest „Nationalkonzil“ notiert, im Original steht indessen „Nationalversammlung“: Hessisches Staatsarchiv Marburg Politisches Archiv des Landgrafen Philipp n. 2924 fol. 62v—63r. 157) vgi. das Gutachten hessischer Theologen von 1537 in Merkwürdige Aktenstücke aus dem Zeitalter der Reformation, hg. von C. Gotthold Neudecker (Nürnberg 1838) 121 ff, in dem unter Bezugnahme auf den Reichstagsabschied