Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 37. (1984)

SUTTER, Berthold: Machtteilung als Bürgschaft des Friedens. Eine Denkschrift des Botschafters Heinrich von Calice 1896 zur Abgrenzung der Interessensphären zwischen Rußland und Österreich-Ungarn am Balkan

Machtteilung als Bürgschaft des Friedens 307 mit Rußland zu erlangen. Auch verkannte Calice nicht, daß die Trassierung der Sphärengrenze den schwierigsten Teil der Verhandlungen bilden würde. In diesem Zusammenhang sollte jedoch, wie er betonte, nicht vergessen werden, daß schon im Jahre 1833 in Münchengrätz zwischen Rußland und Österreich, im Jahre 1844 in London zwischen Rußland und England Eventualverabredun­gen für den Fall des Zusammenbruches der Türkei getroffen worden seien. Auffallend ist, daß Calice zwei wichtige Vereinbarungen nicht erwähnt und demnach offensichtlich nicht gekannt hat, nämlich das am 8. Juh 1876 in Reichstadt zwischen Zar Alexander III. von Rußland und Fürst Gortschakow auf der einen, Kaiser Franz Joseph und Julius Graf Andrässy auf der anderen Seite zwar getroffene, jedoch nicht gemeinsam schriftlich fixierte Geheimab­kommen über die Abgrenzung der beiden Interessensphären auf der Balkan­halbinsel23), sowie die Budapester Geheimkonvention vom 15. Jänner 1877, deren Inhalt das siegreiche Rußland schon ein Jahr später vergessen hatte. Trotz offen ausgesprochener Bedenken schätzte Calice die Verwirklichungs­chancen seines Vorschlages nicht ungünstig ein. Österreich-Ungarn habe es in Rußland „mit Empfindungen zu tun, welche auf den Krimkrieg zurückdatie­ren, durch die Geschichte des Berliner Vertrages neu angefacht“ und durch „den später in Bulgarien eingetretenen Gegensatz bis in die neueste Zeit genährt“ worden seien. „Diese Empfindungen, wenn auch gegenwärtig gemä­ßigt“, müßten „noch als wirksam angesehen werden“. Österreich-Ungarn habe es ferner mit dem Naturell der in Rußland maßgebenden Persönlichkeiten zu tun, und zwar einerseits mit dem des Fürsten Lobanow, welcher großen Mitteln widerstrebe, wenn er mit kleineren und bereits bewährten Methoden seinen Zweck zu erreichen hoffe, andererseits mit den extremen orthodoxen und panslawistischen Richtungen eines Pobedonoszew und seiner Gesinnungsge­nossen24). Zugute komme der Monarchie, „daß im gegenwärtigen Augenblicke kein die Stimmungen irritierendes Streitobjekt“ zwischen ihr und Rußland an der Tagesordnung stehe, „vielmehr in den beiderseitigen konservativen Prinzi­23) George Hoover Rupp The Reichstadt Agreement in The American History Review 30 (1925) 503-510; dsbe A wavering friendship; Russia and Austria, 1876-78 (Cambridge 1941). 24) Konstantin Petrowitsch Pobedonoszew, russischer Rechtslehrer und Staatsmann (1827-1905) übte als Oberprokurator des Hl. Synods und überzeugter Verfechter der überall herrschenden, missionierenden und russifizierenden Staatskirche auf Zar Alexander III. und anfänglich auch auf Nikolaus II. starken politischen Einfluß aus. Seine nicht sonderlich tief gehenden Aufsätze fanden auch im Ausland Interesse und Verleger. Vgl. Konstantin Petrovic Pobédonoscev Streitfragen der Gegenwart (Berlin 1897); dsbe Sammlung moskowitischer Studien über das politische und geistige Leben der Gegenwart, mit Bezug auf Rußland. Deutsch nach der 4. Aufl. (Dresden 1904); Robert Francis Byrnes Pobedonostsev. His life and thought (Bloomington—London 1968); Friedrich von Steinmann - Elias Hurwicz Konstantin Petrowitsch Pobjedonoszew, der Staatsmann der Reaktion unter Alexander III. (Quellen und Aufsätze zur russischen Geschichte 11, Königsberg 1933); Gerhard Simon Konstantin Petrovit Pobedonoscev und die Kirchenpolitik des Heiligen Sinod 1880 bis 1905 (Kirche im Osten 7, Göttingen 1969).

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