Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 37. (1984)
SUTTER, Berthold: Machtteilung als Bürgschaft des Friedens. Eine Denkschrift des Botschafters Heinrich von Calice 1896 zur Abgrenzung der Interessensphären zwischen Rußland und Österreich-Ungarn am Balkan
Machtteilung als Bürgschaft des Friedens 311 Bedeutung haben dürfte. Wenn er, Calice, vom Grafen Murawiew spreche, so meine er implizite dessen kaiserlichen Herrn, da der Zar, wie er höre, doch einen größeren Einfluß auf die Leitung der auswärtigen Politik ausübe, als allgemein angenommen werde. Abermals drängte der Botschafter den Außenminister, indem er feststellte, es sei bemerkenswert, daß Graf Murawiew ängstlich bemüht zu sein scheine, „den künftigen Lösungen der Balkanfragen nicht zu präjudizieren“. Er, Calice, meine nicht etwa, daß Murawiew „damit absichtlich das Feld für eine Verständigung mit Österreich-Ungarn freihalten wollte, wohl aber, daß seine Politik einen gewissen Spielraum für eine solche Verständigung noch offen hält, während andererseits ja nicht in Abrede gestellt werden kann, daß die Position Rußlands am Balkan und in Konstantinopel seit Jahr und Tag keineswegs an Terrain verloren, sondern eher gewonnen“ habe, wie der Beginn einer Art Balkan-Konföderation unter russischen Auspizien, die Bereitschaft der Flotte und der Armee am Schwarzen Meer und die so ziemlich allseitig bestehende Annahme bewiesen, daß keine Flotte der Welt es versuchen werde, die Dardanellen zu forcieren, „wenn es Rußland belieben sollte, durch den Bosporus nach Konstantinopel zu kommen“. Der einzige eventuelle Verteidiger des alten Meerengenrechtes sei die k. u. k. Monarchie, und gerade eben der Umstand, daß daran vielleicht die Kriegsfrage hänge, sei geeignet, der Stimme Österreich-Ungarns in dieser Frage ein größeres Gewicht zu geben, da ja Rußland jede Kriegskomplikation zu vermeiden wünsche. Der Spielraum für eine Verständigung scheine demnach „noch in beiden Richtungen offen“ zu sein. Bei dem Tempo, welches die orientalischen Fragen eingeschlagen haben, sowie bei „der fortschreitenden Zerrüttung des türkischen Reiches“ wachse allerdings „mit jedem Tage die Sorge für den nächsten Morgen“. Entgegen den Hoffnungen des Freiherm von Calice hat die Kaiserbegegnung von 1897 nur sehr beschränkt „welthistorischen Charakter“ angenommen30), gleichwohl sich Goluchowski bewußt war, daß die beiderseits gewünschte Konkordanz „sich nicht allein auf einen oberflächlichen Anschein beschränken“ dürfte. Die entscheidende Konferenz fand im Winterpalais zwischen den beiden Monarchen lediglich unter Zuziehung der beiden Minister des Äußeren statt, doch war ihr zur Enttäuschung Goluchowski ein durchschlagender Erfolg nicht beschieden, da keine schriftlichen und bindenden Abmachungen erzielt wurden31). Trotzdem, so meinte er optimistisch, verdiente die Konferenz 30) Elfriede Hecht Graf Gohichowski als Außenminister von 1895-1900 (in Bezug auf Rußland und den Balkan) (ungedr. phil. Diss. Wien 1951) 40 überschätzt das faktische Ergebnis der St. Petersburger Entrevue. - Hermann Wendel Der Kampf der Südslaven um Freiheit und Einheit (Frankfurt a. M. 1925) verkennt in seiner extrem österreich- feindlichen Einstellung die Bedeutung, die das Übereinkommen von 1897 auch für die Völker der Balkanhalbinsel und ihre nationale Entwicklung besaß. 31) Edmund von Glaise-Horstenau Franz Josephs Weggefährte. Das Leben des Generalstabchefs Grafen Beck. Nach seinen Aufzeichnungen und hinterlassenen Dokumenten (Zürich - Leipzig - Wien 1930) 385 berichtet, daß Goluchowski dem über die Nichtprotokollierung der Gespräche nicht erfreuten FZM Beck geantwortet habe: „Wo