Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)

BROUCEK, Peter: Aus den Erinnerungen eines Kundschaftsoffiziers in Tirol 1914–1918

272 Peter Broucek der Heeresgruppe Conrad zur Sichtung und Auswertung zugeschickt. Darunter befan­den sich unter anderem die Vernehmungsprotokolle von zirka 60 Südtirolern, die wäh­rend der italienischen Neutralitätsperiode der Kundschaftsstelle Verona Agentendien­ste geleistet hatten. Diese Vernehmungsprotokolle waren alle sehr gewissenhaft und genau geführt und enthielten neben den gemachten Angaben auch die genauen Perso­naldaten der Berichterstatter sowie den Tag der Berichterstattung. Wir verglichen diese Protokolle gleich mit den von unseren Grenzstellen geführten Passantenprotokol­len und konnten feststellen, daß die genannten Personen tatsächlich an den in den ita­lienischen Akten genannten Tagen in Italien waren. Unter den so festgestellten Verrä­tern befanden sich mehrere Gerichtsbeamte sowie der Rechtsanwalt Dr. Bertolini aus Trient, der inzwischen an Stelle eines wegen irredentistischer Umtriebe abgesetzten und verurteilten Bürgermeisters von Trient zum Regierungskommissär dieser Stadt er­nannt worden war. Eine von uns gleich vorgenommene Überprüfung ergab, daß sich von den in den italienischen Akten genannten Personen damals noch 23 in Tirol bzw. Österreich aufhielten. Sie alle wurden sofort verhaftet, wobei die Verhaftung des Re­gierungskommissärs Dr. Bertolini am meisten Aufsehen erregte. Seine erfolgte Ernen­nung zum Regierungskommissär zeigte, wie geschickt er es verstanden hatte, seine wirkliche Gesinnung zu verbergen. Um einem eventuellen Leugnen der Verhafteten entgegentreten zu können, wurden Organe der Nachrichtenabteilung eigens damit be­traut zu erheben, ob der Verhaftete auch tatsächlich in der Lage war, die in den Pro­tokollen verzeichneten Angaben machen zu können, d. h., ob es eigene Beobachtungen von ihm sein konnten oder ob er die Daten von jemandem anderen erhalten haben dürfte. Die Nachrichtenabteilung forderte in dieser Beziehung die größte Genauigkeit, weil zu erwarten war, daß die Angelegenheit dem Kaiser vorgetragen werden dürfte, da Dr. Bertolini auch Abgeordneter war. Dies traf auch zu, und eines Tages erhielt der Leiter 'der Nachrichtenabteilung der Heeresgruppe vom Armee-Oberkommando ein Fernschreiben, in dem eine Frontbesichtigungsreise des Kaisers nach Tirol angesagt und der Leiter der Nachrichtenabteilung angewiesen wurde, sich im Hofzuge zu mel­den, um dem Kaiser über die Angelegenheit Dr. Bertolini und Genossen Vortrag zu halten. Als der im Fernschreiben angegebene Tag gekommen war, begab ich mich, mit allem erforderlichen Material wohl ausgerüstet, in den Hofzug und wurde vom Kaiser so­gleich und zwar allein empfangen. Der Kaiser begrüßte mich sehr freundlich und teilte mir zunächst mit, er habe in der Angelegenheit Bertolini deshalb eigens einen Vortrag verlangt, weil doch die Möglichkeit bestünde, daß das von uns erbeutete Aktenmate­rial absichtliche Fälschungen der Italiener und zu unserer Irreführung zurückgelassen worden seienf!]. Ich orientierte den Kaiser zunächst über die Irredenta im allgemeinen und legte ihm dann die erbeuteten Vernehmungsprotokolle im Original, Übersetzungen der einzelnen Protokolle und gleichzeitig auch die Passantenprotokolle unserer Grenz­stellen vor. Der Kaiser nahm in alle Akten genauen Einblick und ließ sich alle von mir durchgeführten Überprüfungen erläutern. Meine Ausführungen überzeugten ihn, und er gab mir den Auftrag, die gerichtliche Behandlung der Angelegenheit mit größter Umsicht und Beschleunigung durchführen zu lassen. Auf Befehl Conrads mußte ich dem Kaiser auch noch eine andere Angelegenheit vor­tragen. Es war dies die inzwischen erfolgte Amnestierung der tschechischen Hochver­räter Kramäf und Klofaö30), die sich auf die Front verheerend auszuwirken begann. Da Hochverräter, welche ihr Land von der Monarchie losreißen wollten, amnestiert wurden, kam der einfache Mann an der Front auf den Gedanken, daß auch er amne­stiert werden müsse, wenn er, um sich seiner Familie zu erhalten, desertiere, denn die­ses Vergehen ist ja viel geringer, als jenes der Hochverräter. Dieser Gedankengang förderte die Neigung zur Desertion, und ich konnte dem Kaiser auf Grund mitge­brachter Unterlagen den Beweis erbringen, daß seit der Herausgabe der Amnestie die 30) Vgl. Gustav Müller Der Hochverratsprozeß gegen Dr. Kargei Kramäf (ungedr. phil. Diss. Wien 1971).

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