Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)

HEINDL, Waltraud: Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900. Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Problems

Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900 245 Schlüsse ziehen. Vorbilder, die - von der Perspektive der sozialen Schicht her - als „bürgerlich“ kategorisiert wurden, besonders in bezug auf die Ehe als gesellschaftliche Institution, die Ehemoral, auf die innerfamiliale Rollen­verteilung und die ökonomischen Funktionen der Geschlechter, gehörten auch weitgehend zur Familienideologie der städtischen Unterschichten. Auch die geschlechtsspezifischen Ansprüche, die Mann und Frau bezüglich des ehelichen Verhaltens aneinander stellten, die Erwartungen, die sie an den Partner richteten, unterschieden sich wohl kaum von den allgemein gängigen der bürgerlichen Gesellschaft. Seit dem Durchbruch der „selbständigen Ar­beiterehe“ 10°) hatte sich, so kann wohl behauptet werden, für sie das bürgerliche Familienbild und die bürgerliche Ehemoral weitgehend als orien­tierendes Vorbild durchgesetzt. Die Frage freilich, ob die damals verbreitete Zuordnung von Geschlechtscharakteren, Klischees, wie der „ritterliche“, „be­ständige“, „gelassene“, Mann und - dem entgegengesetzt — die „zärtliche“, „gefällige“, „anmutige“ etc. Frau* 101), die dazu geschaffen war, dem Mann Heim und Privatleben zu verschönern, in dieser Ausprägung wie in der bür­gerlichen Familienideologie existierten, muß offen bleiben. Keine Rede ist in den Ehescheidungsakten von ehelicher Liebe. Eheschei­dungsprozesse sind im allgemeinen auch nicht dazu geeignet, Gefühle zu re­gistrieren. Schon aus pragmatischen Gründen sprachen zwei sich bekämp­fende „gegnerische Parteien“ nicht von vergangenen Emotionen. Die Frage, ob die romantische Liebe als Wertideal bei den Unterschichten Geltung hat­te, kann daher ebenso nicht beantwortet werden. Es ist aber kaum anzuneh­men, daß man sich diesem ganz entzogen haben konnte, wenn man schwä­cher wirksame Vorbilder akzeptiert hatte. Es gehörte geradezu zu den Ge­meinplätzen der bürgerlichen Familienideologie, die eheliche Liebe, die seit der Romantik eine starke geistig-moralische Aufwertung erfahren hatte102), als Grundbedingung für die Sittlichkeit einer Ehe anzusehen. Ein Fehlen der ehelichen Liebe wurde allgemein beklagt und die Zunahme „spekulativer Motive“ für die Ehegemeinschaft, die „Besitzehe“, als unmoralisch und ge­wöhnlich verworfen103). Damit Hand in Hand gingen die Vorstellungen von ehelicher Harmonie in einer ungestörten Privatsphäre104). Dies implizierte jedoch gleichzeitig einen enormen theoretischen Anspruch, den man an die Ehe stellte, dem die Frage nach der Konfrontation der Theorie mit der Wirk­lichkeit folgen sollte. Setzen wir diesem ideologischen Leitbild die Praxis der „normalen“ Ehe der städtischen Unterschichten mit ihren finanziellen 10°) Siehe S. 230. 101) Siehe Anm. 73. 102) Dazu König Ehe und Ehescheidung 171; Sieder Vom Patriarchat zur Part­nerschaft 160. 103) Caspari Die Sociale Frage 139; Englisch Ehelösungsstatistik 490f; Leth Zur Reform des österreichischen Eherechts 7—13 und vor allem Kraus Sittlichkeit und Kriminalität 27. 104) Zur „Nestfunktion“ der Familie Sieder Vom Patriarchat zur Partnerschaft 158 ff.

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