Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)

HEINDL, Waltraud: Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900. Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Problems

Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900 221 Drei Ergebnisse sind in unserem Zusammenhang aus Englischs Berechnun­gen hervorzuheben: 1. Seit dem Jahr 1883 hatte sich die Zahl der vorkommenden Ehescheidun­gen - nach dem Fünfjahresdurchschnitt dargestellt - von 645 auf 1763, somit um das 2,7fache, jene der Ehetrennungen von 334 auf 1162, somit um das 3,3fache, gehoben. Ein paralleles Ergebnis hatte sich im Vergleich zu den Eheschließungszahlen gezeigt: Während im Jahrfünft 1895—1900 noch eine Ehescheidung auf 193, eine Ehetrennung hingegen auf 1356 Eheschließungen entfiel, belief sich das Verhältnis im darauffolgenden Jahrfünft 1900-1905 nur mehr auf eine Ehescheidung auf 118 und eine Ehetrennung auf 907 Ehe­schließungen 12). 2. Ein „erschreckliches Ansteigen“ der Ehelösungsintensität konstatierte Englisch jedoch für den Zeitraum nach 1900 bei der „so zahlreichen Gesell­schaftsklasse“ der Industriearbeiterschaft der zisleithanischen Reichshälfte. Mit ihren 3,31 Scheidungen auf 1000 Eheschließungen (im Jahre 1902) war die Scheidungsrate um ein Sechstel größer als die der Unternehmerehen, mehr als doppelt so groß als jene der freien Berufe und mehr als sechsmal so groß als die der Landwirte13). Englisch hob daher am Schlüsse seiner Be­trachtungen warnend die Stimme: Er befürchtete erstens den „Rückgang der Institution der Ehe selbst“ im allgemeinen und den Verfall der Arbeiterfami­lie im besonderen und empfahl vor allem in bezug auf die Arbeiterehen drin­gendst staatliche Fürsorgemaßnahmen14). 3. Am meisten betroffen vom Ansteigen der Ehescheidungsquoten waren die Großstädte, am auffallendsten die Haupt- und Residenzstadt Wien. Im Ober­landesgerichtssprengel Wien betrug die Zahl im Durchschnitt nahe an vier Zehntel aller Ehetrennungen und zwischen fünf und sechs Zehntel aller Ehe­scheidungen der westlichen Reichshälfte der Monarchie. Während jedoch im gesamten Oberlandesgerichtssprengel Wien die Zahl der Ehescheidungen sta­tionär blieb, ja sogar einen kleinen Rückgang aufzuweisen hatte, stieg die Zahl der Ehescheidungen des Wiener Landesgerichtssprengels von 22,9% im Jahre 1882 auf 70,4% im Jahre 1905, u. zw. auf Kosten der im Oberlandesge­richtssprengel sich stetig vermindernden Zahl der auf das flache Land ent­fallenden Scheidungen15). Die amtliche Ehescheidungsstatistik bestätigt somit im großen und ganzen die schon zitierten besorgten Warnungen bezüglich des „Verfalls der Ehemo­ral“ und macht verständlich, daß gerade in Wien, wo die Ehescheidungsrate sprunghaft in die Höhe schnellte, die Ehescheidungsfrage ein breites Echo zumindest in der intellektuellen Öffentlichkeit fand. Es erhebt sich die Fra­ge, wie weit diese numerischen Quellen tatsächlich die gesellschaftliche 12) Ebenda; siehe auch die detaillierte Aufstellung 458—462. 13) Ebenda 474 und 495 f. 14) Ebenda 494 ff. ls) Ebenda 469—472.

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