Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)

HEINDL, Waltraud: Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900. Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Problems

ASPEKTE DER EHESCHEIDUNG IN WIEN UM 1900 GRENZEN UND MÖGLICHKEITEN DER ERFORSCHUNG DES PROBLEMS Von Waltraud Heindl I Die Frage der Ehescheidung verdichtete sich nach 1900 zu einem vieldisku­tierten Problem der intellektuellen Öffentlichkeit Wiens. Angriffspunkt der Debatten war zunächst die Rechtslage, die besonders für die Katholiken in Österreich - das bedeutete für 91% der Bevölkerung - große Härten barg. Das österreichische Recht ging konform mit den Satzun­gen der katholischen Kirche und gestattete den katholischen Ehegatten die Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft durch gerichtliche Intervention nur unter eng gefaßten Voraussetzungen. Dafür gab es zwei Möglichkeiten: Er­stens die Trennung vom Ehebande, die eine Auflösung der Ehegemeinschaft statuierte und damit eine Wiederverehelichung ermöglichte. Diese Trennung wurde jedoch nur aus ganz wenigen bestimmten Gründen ausgesprochen. Zweitens gab es die Scheidung von Tisch und Bett, die die eheliche Gemein­schaft zwar aufhob, das Eheband jedoch weiterbestehen ließ und daher eine Wiederverehelichung ausschloß. Den Mitgliedern aller nichtkatholischen christlichen Kirchen sowie überhaupt aller anderen Religionsgemeinschaften war außer der Ehescheidung auch die Ehetrennung „nach ihren Religionsbe­griffen“ gestattet1). Dieser österreichische Rechtszustand wurde als „unmodern“ empfunden. Vereine, die sich gegen das bestehende Eher echt gebildet hatten, wie der „Verein der katholisch Geschiedenen“, politische Parteien, vor allem die So­zialliberalen und die Sozialdemokraten, und die Frauenbewegungen schärf­ten das Problembewußtsein für diese Frage. Höhepunkt bildete diesbezüglich wohl die von der „Kulturpolitischen Gesellschaft“ im Jahre 1905 veranstal­tete Eherechtsenquéte2), an der die Vertreter der verschiedensten politischen ’) Details und Angaben der entsprechenden Paragraphen des ABGB in Oesterrei- chisches Rechts-Lexikon. Praktisches Handwörterbuch des öffentlichen und privaten Rechtes der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder, hg. von Dr. Friedrich Duschenes, Dr. Wenzel Ritter v. Bélsky und Carl Baretta, 2 (Prag 1895): Conossement bis Kindermord 214 ff. 2) Vgl. die Protokolle der Enquéte betreffend die Reform des österreichischen Ehe­rechts (vom 27. Jänner bis 24. Februar 1905) unter dem Vorsitze des Hofrats Dr. Karl von Pelser-Fürnberg (= Mitteilungen der Kulturpolitischen Gesellschaft, Wien 1905). Über diese Enquete und die Haltung der Liberalen zur Eherechtsfrage vgl. die ausge-

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