Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 32. (1979)
HEINDL, Waltraud: Gedanken zur Edition „Die Protokolle des österreichischen Ministerrates (1848–1867)”
258 Waltraud Heindl Ein Historiker wird daher von einem Akt bzw. einer Aktengruppe allein die Darlegung des gesamten Prozesses der politischen Willensbildung, wie es der Rezensent verlangte7), nicht erwarten. Ein Ministerratsprotokoll macht die Willensbildung des ihm zugeordneten Organs, nämlich des Ministerrates, ersichtlich. Selbstverständlich ist es Aufgabe einer modernen Edition, Einflußnahmen anderer Machtfaktoren aufzuzeigen. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten. Die Edition Die Akten der Reichskanzlei für die Weimarer Republik löst das Problem, indem sie sich zum Prinzip einer „Fondsedition“ und gleichzeitig einer „Auswahledition“ entschlossen hat und zusätzlich zu den Protokollen der Kabinettssitzungen der Regierung andere Akten der Reichskanzlei — Berichte, Aufzeichnungen, Entwürfe für den Reichskanzler, Korrespondenzen mit verschiedenen Reichsministerien, Ländern, Verbänden und Gewerkschaften - publiziert, die „das Ineinandergreifen von staatlicher Tätigkeit“ erkennbar machen sollen8). Dies bietet den Vorteü, daß die Verflechtungen von Interessensphären innerhalb eines politischen Fragenkomplexes deutlicher gemacht werden können. Der Editor ist sich jedoch der Gefahr des Auswahlprinzips, das selbstverständlich „wissenschaftliches Ermessensurteil“ impliziert, bewußt9). Die Edition der österreichischen Ministerratsprotokolle ist nicht eine Auswahledition aus der Kabinettskanzlei, sondern die vollständige Herausgabe einer bestimmten Aktengruppe dieses Bestandes. Folgende Überlegungen sprechen für dieses Prinzip: 1. Der Vorteil, das wissenschaftliche Ermessensurteil weitgehend auszuschließen, liegt auf der Hand. 2. Die Quelle selbst bietet sich dafür an: Der österreichische Ministerrat war das Zentralorgan — ob er nun je nach dem konstitutionellen Stellenwert mehr oder weniger Einfluß besaß —, in welchem die Fäden zusammenliefen. Nicht nur Fragen der sogenannten „hohen Politik“ bestimmen den Inhalt der Protokolle, sondern „normale“ Regierungs- und Verwaltungstätigkeit sehr vielfältiger Natur. Durch die vollständige Herausgabe der Ministerratsprotokolle werden daher dem Forscher in der Tat alle Facetten staatlichen Lebens präsentiert. 3. Von Anbeginn an war die Zusammenarbeit mit ungarischen Historikern gegeben, und der Grundsatz der vollständigen Edition bot die günstigste Voraussetzung, einen gemeinsamen Nenner für das erstmalige Experiment eines bilateralen Editionsvorhabens zu finden. 7) Siehe Rezension Fischer 491. 8) Karl Dietrich Erdmann in der Einleitung zu Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik, hg. für die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften von Karl Dietrich Erdmann, für das Bundesarchiv von Wolfgang Mommsen unter Mitwirkung von Walter Vogel. Band: Das Kabinett Cuno: 22. November 1922 bis 12. August 1923, bearbeitet von Karl-Heinz Harbeck (Boppard am Rhein 1968) Vllf. 9) Ebenda XII.