Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 32. (1979)
FORST-BATTAGLIA, Jakub: Die Orientfrage in den Jahren 1875–1878 und das Dilemma der polnischen Konservativen Galiziens
220 Jakub Forst-Battaglia krieg von 1877 und dessen Vorgeschichte. Es war bekannt geworden, daß Andrássy bereits am 15. Januar 1877 durch ein Geheimabkommen mit Gor- cakov die unbedingte Neutralität Österreich-Ungarns und dessen Recht, in Bosnien einzumarschieren, vereinbart hatte. Kozmian nannte rückblickend die Entscheidung des Außenministers einen ,Sieg der Vernunft'. Zwar hatte damit die Monarchie Rußland bewußt geholfen und der Türkei, also auch sich selbst auf längere Sicht, geschadet, doch wäre damals Unnachgiebigkeit mit einem für Österreich verhängnisvollen Krieg gleichbedeutend gewesen19). Diese nachträglich gegebene Beurteilung erklärt uns, warum die Taktik der Konservativen von den ersten Unruhen in der Herzegowina bis zum Ausbruch der russisch-türkischen Feindseligkeiten eine Wandlung durchmachte. Hatten die Führer der galizischen Adelspartei 1875 zunächst angenommen, die Habsburgermonarchie könnte durch rasches Eingreifen zugunsten der Aufständischen die Sache der Balkanslawen zur eigenen machen und den russischen Ambitionen einen Riegel vorschieben, wurden sie bald eines besseren belehrt. Die Gefahr einer militärischen Konfrontation zwischen Österreich und Rußland, ja die Angst vor dem Einmarsch zaristischer Truppen in Galizien und vor einem neuen, zum Scheitern verurteilten polnischen Aufstand brachten die Konservativen allmählich dazu, die offizielle Friedenspolitik Andrässys gutzuheißen. II Dem Krieg gegen die Türkei, den das Zarenreich Ende April 1877, nach dem Mißerfolg eines monatelangen diplomatischen Tauziehens begann und der mit dem Friedensvertrag von San Stefano (Yesilköy) am 3. März 1878 sein vorläufiges Ende fand, sah Österreich-Ungarn tatenlos zu. Wie Graf Andrássy vor dem Budgetausschuß der österreichischen Delegation am 18. Dezember 1877 erklärte, hatte sich die Monarchie für Neutralität entschieden, vorausgesetzt, ihren Interessen geschähe kein Abbruch und sie behalte das Recht, an der Neugestaltung der Verhältnisse in Südosteuropa mitzuwirken. Der lautstarke Protest des Auslands zwang Rußland auch, den Vertrag mit der Hohen Pforte, der den gesamten Balkan zum russischen Herrschaftsgebiet gemacht hätte, einem internationalen Kongreß zur näheren Prüfung und etwaigen Revision zu unterbreiten. Von diesem Kongreß, der am 13. Juni 1878 in Berlin zusammentrat, erhoffte sich der k. u. k. Außenminister eine Zurückdrängung Rußlands, gekoppelt mit einem erheblichen Prestigegewinn Österreichs besonders bei den Slawen20). Selbstverständlich betrachteten die Polen die Lage von vornherein aus ihrer Perspektive: Welche Änderungen ihres besonderen Verhältnisses zu Rußland könnte der Krieg ergeben? Radikale Demokraten und National-Revolutionäre unter der Obhut von Adam Sapieha hofften auf einen neuen Aufstand ihrer 19) Kozmian Monarchia 745—753. 20) Ebenda 695. Die Hintergründe der internationalen Politik zwischen April 1877 und Juni 1878 neuerdings in Wereszycki Walka 340-441.