Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 26. (1973)

GÖRLICH, Ernst Joseph: Ein Katholik gegen Dollfuß-Österreich. Das Tagebuch des Sozialreformers Anton Orel

Tagebuch Orel 407 haltung heranzögen. Ich zeige, wie in Wahrheit die Kinderarmen auf Kosten der Naturgetreuen und ihre sozialen Pflichten Erfüllenden es sich gut gehen und die Wirtschaft schrumpfen lassen. Wir seien ein sterbendes Volk. In 5 Jah­ren würden in Wien überhaupt keine Kinder mehr kommen. Pilz meinte, dann werde Platz für neue werden und es würde wieder ein Aufstieg der Geburten­zahlen eintreten. „Hast du schon mit Dobretsberger35) gesprochen? Ich: „Der ist doch ein Liberaler, war in den Kämpfen immer auf der Seite unserer Geg­ner.“ Pilz: „Der ist wieder ein Liberaler!“ 11. Oktober, 10—11 Uhr. Pilz teilt mir mit, daß er mit Zernatto gesprochen habe; ich solle mich bei ihm melden. Ich sage, daß ich auch Schuschnigg spre­chen müßte, aus seiner früheren Äußerung, ich solle mich dort anmelden aber entnehme, daß ich keine Aussicht habe, zu ihm zu kommen. Er bestätigt dies. Ich sage, daß man aber höre, daß Leute, z. B. aus seinem Verbindungskreis jederzeit sofort bei ihm Zutritt hätten. Ich verweise neuerdings auf die Not­wendigkeit einer gründlichen, antikapitalistischen Sozialreform. Pilz wendet sich dagegen, daß man dem Kapitalismus so viel Schlechtes nachsage. Er habe manche Ubelstände mit sich gebracht, aber auch Ungeheures für den Kultur­fortschritt geleistet. Tendenzen habe er nicht, denn er sei „nur eine W i r t- schaftsform“ und eine Wirtschaftsform könne keine Tendenzen haben. Ich verweise auf Sombarts Herausarbeitung des kapitalistischen Geistes. Pilz entgegnet, Sombart rede jetzt anders. „Hast du seinen letzten Vortrag über die Wechseljahre des Kapitalismus gehört? Er sagte, dieser sei altersschwach und ruhig geworden.“ Ich bestätige, wir stünden im Spätkapitalismus, das besage doch nichts gegen seine Tendenzen. Pilz: „Tendenzen können nur Menschen haben. Sage mir: Wer ist der Kapitalismus? Der Rothschild? Der hat in der Kre­ditanstalt nichts mehr zu reden.“ Ich entgegne: „Du selbst sprichst doch von Versicherungsdirektoren, die die Verstaatlichung nicht zulassen würden. Die ge­hören doch wohl zur Hochfinanz.“ Pilz bleibt dabei, der Kapitalismus sei „bloß eine Wirtschaftsform“ usw. eine absterbende. Wozu solle man gegen ihn Maßnahmen ergreifen? „Er stirbt ja ohnehin ab.“ Ich: „Aber, da er das herr­schende Wirtschaftssystem ist, stirbt mit ihm die Wirtschaft und mit dieser das Volk ab, wir werden ja sehen.“ Pilz geht nicht darauf ein, sondern meint, die Wirtschaftsführer befinden sich in völliger Ratlosigkeit. Ich: „Aber andere wis­sen Rat, werden aber zu der Rettungsarbeit nicht zugelassen. Wir waren jene, die allein durch drei Jahrzehnte die berufsständische Lehre herüber retteten, dafür als Utopisten und rückwärtsgekehrte Phantasten verhöhnt [wurden]. Jetzt haben wir recht bekommen. Da hätte man doch uns, die wir uns jahrzehn­telang mit der Sache beschäftigten, doch zurate ziehen müssen. Man tat es aber nicht, schloß uns aus und machte ein verfehltes Pfuschwerk, das nicht funktio­niert, weil es falsch gebaut ist, nicht funktionieren kann.* Pilz: „Das war ein Fehler, daß man euch nicht 1933 herangezogen hat.“ Die Fehlerhaftigkeit der Ständekonstruktion in der Verfassung sei auch eine Folge der Überstürzung, Dollfuß habe die neue Verfassung schon für Anfang 1934 versprochen. Aber auch am 1. Mai 34 war sie noch überstürzt. Wenngleich sie fehlerhaft sei, so sei es doch besser, einen fehlerhaften Ständebau auszuführen als gar keinen (!). Die Fehler könne man später verbessern. (Das hatte er schon am 14. September ge­sagt. Mein beidesmaliger Einwand: aber wozu denn falsch statt richtig bauen?, verfing nicht). Ich beklagte zutiefst, daß keine wirksame Hilfe für die Arbeits­losen und die in voller Auflösung befindliche Familie geboten werden. Wir seien am Untergang und ohne Rettung. Pilz führte den Kinderschwund wieder auf den Luxus in den unteren Volkskreisen zurück (wie schon am 14. September: 35) Dr. Josef Dobretsberger (1903—1970), Nationalökonom, Bundesminister für soziale Verwaltung 1935/1936, 1938 in Emigration, seit 1946 wieder in Graz.

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