Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 26. (1973)

GÖRLICH, Ernst Joseph: Ein Katholik gegen Dollfuß-Österreich. Das Tagebuch des Sozialreformers Anton Orel

396 Ernst Joseph Görlich sprechen, von der man in der Öffentlichkeit bis auf gelegentliche Tagungen und Vortragszyklen nichts höre. Er war sehr indigniert und meinte: da sei ich sehr schlecht unterrichtet, denn es werde fieberhaft gearbeitet. Ich darauf: „Ich bin über die inneren Vorgänge nicht informiert und spreche nur davon, was man in der Öffentlichkeit erfährt, und das ist so gut wie nichts, insbesonders gar nichts auf dem wichtigen Gebiet der sozialen katholischen Aktion.“ Der Papst habe doch durch ,Quadragesimo anno“ die ganze Kirche und insbesonders die katholische Laienaktion zur Arbeit für die Errichtung einer wahren Stände­ordnung aufgerufen, man höre aber in der Öffentlichkeit nichts davon, daß die katholische Aktion irgend etwas dahingehend unternehme, obwohl dies drin­gend geboten wäre. Darauf Engelhart: Auch hierin sei ich schlecht unterrichtet, erst gestern sei hier bei ihm einer gesessen, der namens der Wehrmänner dar­über Klage geführt habe, daß die Gehälter der Offiziere erhöht worden wären, indessen die Gehälter der Wehrmänner gekürzt werden sollten; es handle sich da um 5000 Leute, die noch dazu von der katholischen Aktion ins Heer gesendet worden seien; nun werde das Interventionsbüro der katholischen Aktion ein- greifen. Ich darauf: „Das hat doch mit der Ständeordnung nichts zu tun!“ — Worum es sich in erster Linie handelt, das wäre, daß die katholische Aktion klar zum Ausdruck brächte, daß sie mit dem, was in Restösterreich unter Beru­fung auf die Ständeidee und ,Quadragesimo anno“ geschieht, nichts zu tun hat und diesem System gegenüber, für das Kirche und Katholikentum allein für verantwortlich gehalten werden, eine wahre Ständeordnung und damit die Lö­sung der brennenden sozialen Frage verlange und propagiere. Darauf Engel­hart: Das geschehe ohnehin; „wir erklären doch, wo immer wir nur können, daß wir nichts damit zu tun haben“. Ich: „Aber in der Öffentlichkeit — und von der rede ich, und auf die kommt es an — hört man nichts davon.“ Engelhart: „Sie wissen doch, daß das nicht geht; Sie kennen doch unsere Zensurverhält­nisse; da war es doch in der Zeit der Republik viel besser, damals hatte man Pressefreiheit; es ist doch sogar unser Kardinal zensuriert wor­den.“ Ich darauf: „Selbst wenn das richtig wäre: der Kirche stehen doch die Kanzeln zur Verfügung. Da müssen sich eben die Pfarrer und Prediger even­tuell einsperren lassen. Und im übrigen: das herrschende System, für das in der allgemeinen Volksmeinung die Kirche verantwortlich gemacht wird, hat doch in der Kirche seine Hauptstütze. Wenn heute die Bischöfe und die katho­lische Aktion öffentlich erklären, daß sie mit diesem System nichts zu tun ha­ben und es ablehnen, muß die Regierung sofort zurücktreten und das System sei gestürzt.“ Engelhart: „Ja, das ist richtig — aber was kommt dann nach? Wir ha­ben doch keine Leute!“ Ich: „Das also ist das Ergebnis des in den letzten Jahr­zehnten im katholischen Lager dominierenden Systems, das keine Köpfe und Charaktere duldete, alle Kampfnaturen und Persönlichkeiten hinaus und in die anderen Lager getrieben hat?! Jetzt steht man da und hat niemanden!“ Engelhart: „Da brauchen wir nicht Jahrzehnte zurückgehen; schauen wir nur auf das letzte Jahrzehnt der christlichsozialen Partei.“ Ich: „Dieses System ist aber von den kirchlichen Stellen die ganze Zeit hindurch gestützt und geför­dert worden, die kirchlichen Amtsträger sind dafür verantwortlich. Und wir, die wir immer unsere warnende Stimme erhoben, sind dafür verfemt und ver­folgt worden. Sagen Sie mir: sehen Sie denn nicht, wie die Dinge stehen? Wissen Sie nicht, daß das herrschende politische System keine 10% der Bevölkerung auf seiner Seite hat und jeden Augenblick umkippen kann? Wissen Sie nicht, daß in den unteren Volksschichten eine Stimmung herrscht, die uns morgen in spa­nische Zustände versetzen kann? Wissen Sie nicht, daß vielleicht schon morgen unsere Kirchen und Klöster brennen und unser Klerus und wir als Katholiken geltende Laien abgeschlachtet werden?“ Engelhart: „Ja, das wissen wir. Glau-

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