Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 26. (1973)

GÖRLICH, Ernst Joseph: Ein Katholik gegen Dollfuß-Österreich. Das Tagebuch des Sozialreformers Anton Orel

Tagebuch Orel 387 ner und geleitete mich in die Sitzung, wo mich Kunschak an seiner Rechten Platz nehmen ließ. Ich wurde wegen unseres Wahlaufrufes zur Rechenschaft gezogen, 1. weil es ein Vergehen gegen die Disziplin sei, einen eigenen Wahlaufruf herauszugeben, 2. weil darauf von mit der christlichsozialen Politik Unzufriedenen die Rede sei und diese zu meiner Wahl eingeladen wer­den, wodurch ich mich zu ihrem Vertreter gegen die Mandatare mache, die für die bisherige Taktik seien. Die Verhandlung währte eine Stunde. Bezüglich des 1. Punktes erklärte ich, daß wir keine Ahnung von einem diesbezüglichen Verbot gehabt hätten und in Zukunft solches nicht mehr tun würden (ich vergaß, mich darauf zu berufen, daß, [als] ich dem Bezirksob­mann Kerner vorher von unserer Absicht Kenntnis gegeben und ihn um finan­zielle Unterstützung seitens der Bezirksparteileitung hiefür ersucht hatte, er nicht das leiseste Bedenken laut werden ließ. Tatsächlich hatte die Parteileitung auch unsere sämtlichen Wahlkosten, auch die des Aufrufes, übernommen, bestan­den diese nur aus Buchdruckerrechnungen, da ja alle die großen persönlichen Dienste unentgeltlich geleistet worden waren). Der 2. Punkt führte zu einer langen Debatte, in der Partik und Rummel­hart, meine „Wahlkreiskollegen“ (!), mir beisprangen, während Kunschak jeden Schritt des Entgegenkommens meinerseits mit Mehrforderungen beantwortete. Schönsteiner sekundierte ihm in der brutalsten Weise, indem er erklärte, dieser Aufruf sei eine Gemeinheit (er wiederholte das), und man müsse uns bei Zeiten, gleich beim ersten Mal, Disziplin beibringen, sonst werde sich das wiederholen. „Und wir haben immer diese Geschichte“. Jeder Mandatar müsse die Politik der Partei nach außen hin bedingungslos mitmachen und ver­teidigen. Weder Kunschak noch sonst jemand der Anwesenden fand an dieser Beschimpfung etwas auszusetzen. Ich erwiderte, daß ich es ablehne, darauf zu reagieren. Man gab sich schließlich (trotz Kunschaks Bedenken) mit meiner Erklärung zufrieden: „Ich sehe, daß hier die Anschauung vorherrscht, daß eine solche Textierung des Aufrufes unzulässig sei und werde mich darnach richten“. (4) 1. Klubsitzung (7. November 1923). Doppler, der schon seit 1919 GR (= Gemeinderat) ist, weist darauf hin, daß Oppositionsmachen sehr unfruchtbar sei, wenn man nicht wisse, wo­für. Er schlägt vor, daß die Gemeinderatspartei sich ein Programm gebe. Kunschak erwidert, das wäre sehr wünschenswert und nützlich. Aber niemand der Anwesenden werde wohl die große Schwierigkeit dieser Frage verkennen: Wir stehen einer sozialdemokratischen Mehrheit gegenüber, wie könne man dieser in der Demagogie (!) überlegen sein? Kerner hatte mir schon gelegentlich der Kandidaturbesprechungen erklärt, er selbst tauge nicht für den Gemeinderat, da er von den Roten geschäftlich abhängig sei (Gefahr der Schikanierung und Kontrollen usw.), daher nicht ge­gen sie auftreten könne. Er plante damals, Bezirksvorsteher zu werden, kandi­dierte aber dann doch als Erster auf der Gemeinderatsliste. In der 1. Klubsit­zung trat er mir bereitwilligst seinen Platz im Ausschuß für Sozialpolitik und Wohnungswesen ab und erklärte auf Kunschaks Frage, in welchen Ausschuß er gewählt zu werden wünsche: das sei ihm ganz gleichgültig. Bis Jahresschluß hat er sich dann auch nirgends gerührt. 5 (5) M e r b a u 1. Ein neuer GR. Ein alter Spießer. Rührt sich nicht. Während der lang­wierigen Budgetdebatten vor Weihnachten 1923 teilt Kunschak uns mit, daß am 29. Dezember die Silvesterfeier des Klubs im Rathauskeller statt­finde. Merbaul ist elektrisiert. Er fängt [an], ganz laut von den Lecker­25*

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