Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 26. (1973)

GÖRLICH, Ernst Joseph: Ein Katholik gegen Dollfuß-Österreich. Das Tagebuch des Sozialreformers Anton Orel

Tagebuch Orel 383 offiziellen Katholikenorganisationen taten), sondern für ihn war der Kapi­talismus in sich verdammenswert. Ein zweites Grundelement in Orels Weltanschauung war sein Groß- österreichertum. Orel lehnte den 1867 geschaffenen dualistischen Staats­aufbau Österreich-Ungarns ab, aber ebenso die Republik von 1918, die er mit Vorliebe als „Rumpf-“ oder „Rest-Österreich“ bezeichnete. Sein Groß- österreichertum wurzelte in der Zeit vor 1866. In diesem Sinn ist auch sein Verhältnis zu Deutschland erklärbar. Für ihn hatte Österreich nicht nur eine Aufgabe im Donauraum, ihm gebührte auch legitimerweise die Vorrangstellung in Deutschland. In dieser Beziehung bekannte er sich als „deutsch“ und war einige Zeit sogar der Meinung, der Nationalsozialismus ließe sich in seinem Sinn „großösterreichisch“ machen. Er lehnte ihn aber sofort ab, als er erkannte, daß Hitler — wie sich Orel ausdrückte — „den Kampf Friedrichs II. gegen Maria Theresia“ zu Ende führen wolle. Orel war auch ein erbitterter Gegner des Anschlusses, den er, wie er am 13. März 1938 zustandekam, als Vergewaltigung Österreichs bezeichnete. Am schwersten ist Orels Stellung zum Judentum zu durchschauen und zu begreifen. Er hatte von Vogelsang und Lueger bestimmte antisemi­tische Aspekte übernommen, aber es wäre zu allgemein, ihn einfach als „Antisemiten“ bezeichnen zu wollen. Seine Judengegnerschaft schöpfte aus geistigen, nicht aus rassisch- biologischen Kräften. Orel selbst lehnte es ab, „Antisemit“ genannt zu werden. Er bekämpfe — so seine Diktion — den „jüdischen Geist“, wo immer er sich zeige, nicht den Juden als Menschen. Der „jüdische Geist“ könne sich auch in „Ariern“ manifestieren. Dieser „jüdische Geist“ ist nach Orels metaphysischer Auf­fassung von Luzifer erzeugt und in den sündigen Menschen hinein­gelegt. Das jüdische Volk sei seit dem Augenblick, da es Christus als Messias verworfen habe, diesem luziferischen Einfluß besonders leicht zugänglich. Er sei also — so Orel — kein „Antisemit“, sondern ein „Anti­judaist“, wobei unter Judaismus dieser luziferische Geist zu verstehen sei, der sich in der Gegenwart vor allem im kapitalistischen System äußere. Aus diesem Gesichtspunkt heraus betrachtete Orel auch den jüdischen Anteil am kapitalistischen System, ohne Rücksicht auf die Tatsache zu nehmen, daß Juden bis ins 19. Jahrhundert kaum ein anderer Beruf als der des Händlers und Geldleihers offen stand. Primitive Anhänger Orels verwechselten dann diesen „jüdischen Geist“ Orels mit der menschlichen Person des Juden. In der Praxis verhielt sich Orel, besonders nach 1938, wesentlich anders, als man hätte vermuten können: so verschaffte er einem Gelehrten die Möglichkeit, seine Studien fortzusetzen, indem er für ihn auf seinen Namen Bücher aus der Nationalbibliothek auslieh, zu der ein jüdischer Entleiher keinen Zugang mehr hatte. Wir verweisen nur auf Orels Stellungnahme (Kapitel 48), wo es heißt: „Auch die Juden würden andere werden, wenn sie sich bekehrten“. An Massendeportationen und

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