Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 25. (1972) - Festschrift für Hanns Leo Mikoletzky

NECK, Rudolf: Von den Kategorien der historischen Vernunft

Von den Kategorien der historischen Vernunft 523 heitlichen Geschichtsdenken nachzuvollziehen, wie es für die meisten Hi­storiker des Westens schon seit Generationen vorherrschend kennzeichnend war32). Diese Wende wurde natürlich durch den moralischen und mili­tärischen Zusammenbruch im letzten Krieg ausgelöst und politisch durch die Teilung Deutschlands gefördert33), war aber auch geistesgeschichtlich fällig und notwendig. Sie bedeutet letzten Endes eine Ranke-Dämmerung und das Ende des Historismus 34). Die großen Verdienste der Schule des Historismus bleiben unbestritten. Er hat die Einmaligkeit des historischen Geschehens postuliert und zur methodologischen Eigenständigkeit der Kulturwissenschaften den wichtig­sten Beitrag geleistet. Dies hat allerdings in der weiteren Folge zu Ein­seitigkeiten geführt und zu einer aristokratischen, wirklichkeitsfeindlichen Grundeinstellung gegenüber dem historischen Stoff im Gefolge einer per­vertierten Wertphilosophie. Es fehlte besonders der Blick für die kon­stanten Elemente und typischen Erscheinungen im Geschichtsverlauf. Da er in erster Linie ein deutsches Phänomen war, wurde der Historismus spä­testens seit 1914 problematisch, obwohl ein Gegenstand seiner selbst85). Wenn wir als das Historische das sehen, was geworden ist, bleibt doch die Frage offen, ob das Vergangene notwendiger ist als das Zukünftige, bzw. ob das Mögliche dadurch, daß es wirklich wurde, notwendiger ge­worden ist, als es war. Rein logisch gesehen steht das Notwendige für sich selbst36). Aus der historischen Anschauungsform der Zeit lassen sich für Vergangenheit und Gegenwart wie Zukunft mannigfache kategóriáié Weiterungen ziehen37 38 *). Die Zeit macht das Eigenwesen der Geschichte gegenüber der Anschau­ungsform des Raumes aus: der räumliche Abstand kann über brückt wer­den, der zeitliche nie. So erhebt sich die Frage, wie es uns gelingen kann, das wiederzufinden, was sich in der unfaßbaren Weite des Gewesenen verloren hat. Der Historiker baut daher auf die Einheit und Permanenz alles Menschlichen und erhebt damit die Geschichte zur kollektiven Lebenserfahrung 3S). Er geht sohin von der Annahme aus, daß in der Ge­32) Georg G. I g g e r s Deutsche Geschichtswissenschaft (München 1971). Vgl. auch Hans Ulrich W e h 1 e r (hg.) Deutsche Historiker 2 Bde (Göttingen 1971). 33) 'Werner Berthold „Grosshungern und gehorchen“. Zur Entstehung und politischen Funktion der Geschichtsideologie des westdeutschen Imperialis­mus (Berlin 1960). 34) Otto V o s s 1 e r Rankes historisches Problem in Geist und Geschichte (München 1964) 184 ff. 35) Friedrich Meinecke Die Entstehung des Historismus (München 1965) und Zur Theorie und Philosophie der Geschichte (Stuttgart 1965). 38) Sörén Kierkegaard Philosophische Brocken. Zwischenspiel. 37) Reinhard W i 11 r a m Zukunft in der Geschichte. Zu Grenzfragen der Geschichtswissenschaft und Theologie (Göttingen 1966) 5 ff. 38) J. R. von Salis Geschichte und Diplomatie in Im Lauf der Jahre (Zürich 1962) 109 ff, 125.

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