Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 24. (1971)
HERSCHE, Peter: Erzbischof Migazzi und die Anfänge der jansenitischen Bewegung in Wien
294 Peter Hersche des 18. Jahrhunderts in Österreich immer ungehemmter entfaltete und deren radikalster Vertreter sein Lieblingsschüler Joseph Valentin Eybel war. Woher aber stammen Migazzis antijesuitische und jansenistenfreund- liche Auffassungen in Dogmatik und Moraltheologie? Wolfsgruber läßt seine Leser bei dieser Frage im Stich, doch lassen einige wenige Indizien mit großer Sicherheit darauf schließen, daß Migazzi diese seine Anschauungen in Italien kennengelernt hat, und zwar in Rom, so unwahrscheinlich dies auch klingen mag. Es ist eine merkwürdige, aber nicht zu bestreitende Tatsache, daß der größte Teil der aufgeklärten Reformbischöfe in Österreich, und zwar gerade die bedeutendsten unter ihnen, im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts das Collegium Germanicum besuchten 59). Zur Erklärung dieses paradoxen Sachverhalts muß man sich vor Augen halten, daß gerade um diese Zeit sogar am Sitz der Nachfolger Petri die Herrschaft der Gesellschaft Jesu sehr ins Wanken geriet, ein Prozeß, an dem die Päpste selbst nicht unbeteiligt waren60 *). Innozenz XIII. (1721—24) machte der Sozietät Vorwürfe im Ritenstreit; sein Nachfolger Benedikt XIII. (1724—30) war als Dominikaner und Thomist selbst ein Anhänger der „sana dottrina“ und setzte sich für Genet und Natalis Alexander ein. Es bildeten sich jansenistische Zirkel, die unter den Kardinälen Protektoren und Förderer fanden. Der bekannteste unter diesen Zirkeln hielt seine Sitzungen im Palazzo der Nepoten des Papstes Klemens XII. (Corsini 1730—40) ab. Dessen Nachfolger Benedikt XIV. (1740—58) schließlich war in ganz Europa als aufgeklärter Herrscher bekannt. Selbst in der Gesellschaft Jesu machten sich von der Ordenstradition abweichende Auffassungen breit, und auch unter den jesuitischen Lehrern des Collegium Germanicum befand sich mindestens ein schwarzes Schaf, nämlich Egidio Giuli, Professor des Kirchenrechts. Er war Antiprobabilist und mit einem der bedeutendsten Vertreter der „sana 59) Nämlich (in der Reihenfolge ihres Eintritts) die Bischöfe Franz Felix de Alberti, Ferdinand von Hallweil, Ambros Simon Stock, Leopold Ernst von Firmian, Philipp Gotthard von Schaffgotsch, Migazzi, Emanuel von Waldstein, Joseph von Pergen, Joseph Philipp von Spaur, Alexander Franz Joseph von Engl, Ignaz Koller von Nagymanya, Joseph Adam von Arco. Als Jansenisten bekannt wurden außerdem die Germaniker Francesco Ceschi, Domdekan in Trient, und Otto von Rindsmaul, Kanonikus in Passau. Die Reformbischöfe Virgil Maria von Firmian und Joseph Maria von Thun hielten sich bei einer Kavaliersreise in Rom zu Studien auf. Mit Sicherheit darf ein Einfluß des römischen Aufenthalts auf die Ausformung des reformkatholischen Gedankenguts bei diesen Prälaten nicht in jedem Fall angenommen werden, so etwa ist Spaur erst nach seiner Rückkehr zum Jansenismus „bekehrt“ worden (vgl. Anm. 65). — Zum Collegium Germanicum im allgemeinen vgl. Andreas Steinhuber Geschichte des Collegium Germanicum-Hungaricum in Rom. 2 Bde. (Freiburg/Br. 1895). 60) Zur Situation in Rom um diese Zeit vgl. vor allem A p p o 1 i s Entre Jansénistes et Zelanti und Enrico Dammig II movimento giansenista a Roma nella 2« metä del secolo XVIII (Cittä dei Vaticano 1945).