Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 23. (1970)

Nachrufe - NECK, Rudolf: Jean de Bourgoing (1877–1968)

472 Nachrufe Sein Urgroßvater war noch im Ancien Regime von der Armee in die Diplomatie übergetreten und hat auch unter der Republik und im ersten Kaiserreich gedient. Er stand in nahen Beziehungen zu Talleyrand und fand besonders in deutschen Fragen Verwendung. Auch sein Sohn, der Großvater Bougoings, kämpfte zunächst unter Napoleon in Rußland, er­lebte den Brand und den Rückzug von Moskau und die Befreiungskriege. Unter den Bourbonen nahm ihn Talleyrand in den diplomatischen Dienst auf, wo er seine Karriere auch unter dem Bürgerkönig und Napoleon III. fortsetzen konnte. Auch der Vater unseres Historikers stand in diploma­tischen Diensten des Zweiten Kaiserreiches und der Dritten Republik. In den kritischen Jahren 1866 und 1870 war der junge Legationsrat in Wien, wo er offenbar bei Beust besonderes Ansehen genoß. Von hier ging er 1876 als französischer Generalkonsul nach Budapest. Bereits 1874 hatte er die Gräfin Therese Kinsky in Wien geheiratet, die Mutter Jean de Bour- goings. Die Familie ließ sich nach dem Abschied des Vaters aus dem Dienst dauernd in Wien nieder. Bourgoing wuchs in den Kreisen des Wiener Hochadels vor der Jahrhundertwende auf und genoß eine gediegene Bil­dung und die vielseitige Erziehung eines Kavaliers der alten Schule. Nach­dem er in einem französischen Dragonerregiment eine harte und lange Rekrutenausbildung überstanden hatte, entschloß er sich endlich nach langem Schwanken, für die österreichische Staatsbürgerschaft zu optieren. Im Ersten Weltkrieg diente er in einem österreichischen Husarenregiment, zuletzt als Rittmeister. So sehr er sich zur Habsburgermonarchie hingezogen fühlte, deren Untergang ihn tief schmerzte, so sehr blieb er jedoch auch seiner alten Heimat treu. Dies hat vor allem in seinem historischen Werk seinen Nie­derschlag gefunden. Seine umfassende Bildung und seine ausgedehnten Interessen ließen ihn in seinen ersten Publikationen, die bald nach dem Ersten Weltkrieg erschienen, sich zunächst mit Themen der bildenden Kunst beschäftigen. Bald wandte er sich aber seinem Hauptinteressengebiet zu, das für ihn bis zum Lebensende maßgebend blieb: in den vielfältigen Studien zu den Biographien von Marie Louise und besonders des Herzogs von Reichstadt vereinigte Bourgoing gleichsam seine Neigung zu seinen — wie er sie selber nannte — beiden Stammländern und seine Sympathien für die Dynastien Österreich und Bonaparte. In diesen zahlreichen Arbeiten unterschied sich Bourgoing freilich in vieler Hinsicht und sehr vorteilhaft von Autoren ähnlicher höfischer Themen. Er war in erster Linie Quellenforscher, der es immer wieder verstand, neue Unterlagen aufzuspüren und zu erschließen. Was ihn je­doch vor den anderen besonders auszeichnete, war ein ausgesprochen kri­tischer Sinn, der um die Problematik jeder menschlichen Persönlichkeit wußte und der — bei allem Wohlwollen für die von ihm nachgezeichne­ten Gestalten — auch vor deren Schattenseiten nicht die Augen verschloß. Gerade hier bedeutet das heute schon im besten Sinn klassische, weil abschließende Werk Bourgoings einen wesentlichen Fortschritt in der

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