Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 23. (1970)

GARDOS, Harald: Ballhausplatz und Hohe Pforte im Kriegsjahr 1915. Einige Aspekte ihrer Beziehungen

286 Harald Gardos schaftlichen, administrativen und kultuspolitischen Vereinbarungen, de­ren Ausdehnung zu Beginn des 20. Jahrhunderts so weit ging, daß die Türkei praktisch, unter der Vormundschaft der betreffenden Länder, im Inneren die gleiche Ohnmacht wie außenpolitisch auf wiesleo). Dieser Umstand bildete wohl einen der wesentlichsten Gründe, die das einstige Großreich zum Eintritt in den Weltkrieg bewogen. Die Mittelmächte hatten ihn nicht genügend berücksichtigt, wie die Zukunft erweisen sollte. Die Donaumonarchie errang in den Friedensschlüssen der vergangenen Jahrhunderte ebenfalls das Protektoratsrecht über die lateinischen Chri­sten im Osmanischen Reich, welches sie uneingeschränkt im gesamten Staatsgebiet auszuüben berechtigt war. Doch stellte es in Österreich-Un­garn ein persönliches Recht des Kaisers dar, während Frankreich darin eine nationale Aufgabe sah, die sich großer Popularität erfreute 160 161). Das politische Interessengebiet der Wiener Regierung lag schließlich auf dem Balkan, so daß sie ihr Schutzrecht in den Jahrzehnten vor dem Krieg faktisch in Bulgarien, Mazedonien und vor allem Albanien praktizierte. Daneben betreute sie Franziskaner und katholische Kopten in Ägypten, das jedoch schon sehr weit außerhalb ihres diplomatischen Gesichtskreises stand. Die sprachliche Struktur des Vielvölkerstaates verhinderte ja eine geschlossene Missionierung des Orients, das Französische hingegen war Handelssprache und Verständigungsmittel der gebildeten Kreise ganz Vorderasiens geworden, französische Kultur hatte die Levante durchdrun­gen. Paris blieb natürlich auch auf dem politischen Sektor nicht untätig, 1860 erzwang es durch eine militärische Expedition die Autonomie des Libanon, womit das französische Prestige im Vorderen Orient seinen Höhepunkt erreichte. Erst nach 1870 erhoben die übrigen Großmächte den Anspruch, den Schutz der eigenen Untertanen und Anstalten zu über­nehmen. Dennoch konnte Frankreich seine dominierende Stellung im Berliner Vertrag, Artikel 62 162), wieder festigen. Anläßlich der Verhandlungen über eine Entschädigung für die Anne­xion bot Aehrenthal der Pforte eine Einschränkung des österreich-unga­rischen Kultusprotektorats und, am 26. Februar 1909, die Aufhebung der Kapitulationen an 163). Letzteres Versprechen, das zu seiner Erfüllung die Einwilligung aller übrigen beteiligten Staaten erforderte, wurde von der 160) Zu Geschichte und rechtlichem Inhalt der Kapitulationen siehe in erster Linie Wilhelm Bein Die Kapitulationen (jur. Diss. Wittenberg 1916). 161) Anna Hedwig B e n n a Studien zum. Kultusprotektorat Österreich-Un­garns in Albanien im Zeitalter des Imperialismus (1888—1918) in MÖStA 7 (1954) 15. 162) PA XL 317 (Interna, Mémoires u. Notizen, Das französische Kultus­protektorat). 103) Helga Martina Österreich-Ungarn und die Türkei vom Ausbruch des Weltkrieges bis zum Abschluß des zweiten deutsch-türkischen Bündnisver­trages am 21. März 1915 (phil. Diss. Wien 1965) 16 f.

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