Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 14. (1961) - Festschrift für Gebhard Rath zum 60. Geburtstag

RILL, Gerhard: Die Staatsräson der Kurie im Urteil eines Neustoizisten (1706)

328 Gerhard Rill überhaupt der aggressive Ton, der in Lambergs Denkschrift vorherrscht und in scharfem Kontrast zu Erizzos Sachlichkeit und Ironie steht, kamen aus eigenem Erleben. Morosini hat als Gründe für das Zerwürfnis zwischen Papst und Kaiser erst an zweiter und dritter Stelle die Begünstigung der französischen Trup­pen und Philipps von Anjou von Seite Clemens’ XI., an erster aber die Zustände in Rom, das Kesseltreiben auf alle kaiserlich Gesinnten und zu­letzt auch auf den Botschafter, angeführt49). Unzählige Details in den Tagebüchern und Korrespondenzen lassen den Leidensweg Lambergs er­kennen, der vom scheinbar besten Einverständnis mit dem Papst über die Wende des Jahres 1701 (Scheitern des Septemberaufstandes in Neapel) zu den fast anarchischen Zuständen in der Ewigen Stadt führten; das Bild, das sich 1702 bot: Bandenkriege der Sbirren, Diffamierung und Ter­ror, dabei enge Zusammenarbeit der französischen Partei mit dem Gou­verneur von Rom, Ranuccio Pallavicino, unter stillschweigender Duldung des Papstes, — hatte sich bis 1705 keinesweges gebessert50). Die dadurch verständliche Erbitterung Lambergs trifft nun mit neustoizistischen Vor­stellungen zusammen. Spuren der „Politik“ 51) finden wir — im speziellen Teil — nicht nur im Einzelnen (über die Minister des Papstes, über die geheimen Ratgeber), sie sind auch urteilsbegründend: Treulosigkeit und Ungerechtigkeit, — beides lastet Lamberg immer wieder der päpstlichen Regierung als Hauptvergehen an, — stehen nach Lipsius auf der untersten der drei Stufen des politischen Betruges52). An anderer Stelle spricht der Botschafter im Sinne der „Politik“ direkt vom governo macchiavellino Clemens’ XI.53). In der Diskrepanz zwischen Erbitterung und geforderter „Sachrichtigkeit“ blieb, wie nicht anders zu erwarten, das Erlebnis stär­ker; obgleich Lamberg versichert, daß ihn niemallen eine passion leiten werde54), vergißt er über einigen Maßregeln der „Politik“ die Mäßig­keitslehre der „Constantia“ und verliert sich in das dem praktizierenden Neustoizisten verbotene Gebiet der opinio. Dessenungeachtet bezeugt die R epre sentadón, wenn man sie im Zu­sammenhang mit den Tagebüchern, der Relazione und den Berichten sieht, daß zu Beginn des 18. Jahrhunderts die „Politik“ nicht nur im pädagogi­schen Bereich lebendig geblieben war: ein Diplomat an einem der heikel­sten Punkte Europas erhebt die für sein Urteil maßgebliche Forderung 49) Morandi, Relazioni 206. 50) Außer den von Lamberg stammenden Nachrichten vgl. vor allem die frühen Biographen Clemens’ XI. (Buder, Lafitau, Reboulet). si) Pol. III 5, 9, 10 (p. 60—62). 52) O e s t r e i c h, Justus Lipsius als Theoretiker 42, 56. 53) Lamberg an Liechtenstein am 26. Juli 1704 (Archiv Liechtenstein Vaduz). — Nach fast zweihundert Jahren hat L e R o y, La France et Rome 76, diesen Vorwurf gegen Clemens XI. wiederholt. 54) Lamberg an Liechtenstein am 3. Jänner 1702 (Archiv Liechtenstein Vaduz).

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