Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 11. (1958)
NECK, Rudolf: Über die Abschiedsbriefe des Kronprinzen Rudolf
Miszellen 499 Man weiß, daß Mary Vetsera ihren letzten Willen bereits am 18. Jänner 1889 abgefaßt hat3'2). Die vorliegende letztwillige Verfügung Rudolfs ist wahrscheinlich erst zehn Tage später geschrieben worden, da darin bereits von seinen Abschiedsbriefen die Rede ist. Als wichtigste Bestimmung darin ist wohl die anzusehen, die die Sichtung von Rudolfs schriftlichen Nachlaß im Gegensatz zum Testament von 1887 allein seinem Freund Szögyény überträgt, seine Gattin davon also ausschließt. Wir wissen, daß die Kronprinzessin entgegen ihren eigenen Behauptungen bei der Öffnung des Schreibtisches Rudolfs im „türkischen Zimmer" in der Hofburg tatsächlich nicht zugegen war32 33). Ob Rudolf seine diesbezügliche Verfügung von 1887 nur im Hinblick auf die noch vorhandenen Briefe Marys und der Gräfin Larisch geändert hatte, bleibe dahingestellt. Am aufschlußreichsten dürften aber wohl die Hinweise auf die zu verschickenden vier Abschiedsbriefe sein. Die Existenz der beiden ersten an Schwester und Gattin ist bereits bekannt. Von einem sehr leidenschaftlichen Brief Rudolfs an seine Geliebte Mitzi Kaspar weiß auch die Hoyos- Denkschrift bzw. der Krauß-Akt zu berichten34). Neu ist die Nachricht von einem Brief an den Baron Moritz Hirsch35). Wir gehen wohl mit der Annahme nicht fehl, daß dieses Schreiben im Zusammenhang steht mit den Zuwendungen, die Rudolf in seinen letzten Lebenstagen der Kaspar gemacht hat. Es scheint, daß Rudolf dieser Frau, die ihm zweifellos persönlich näher stand als Mary, noch im Tode eine solide finanzielle Grundlage schaffen wollte. Ihr hat er auch in dem vorliegenden Kodizill sein ganzes Bargeld vermacht. Damit ist die Zahl von Rudolfs Abschiedsbriefen und deren Adressaten zumindest bis zur Abreise von Wien nach Mayerling eindeutig festgelegt. Ob der Kronprinz dann nur mehr den einen Brief an seine Mutter sowie den Zettel an Loschek und das Telegramm verfaßt hat, läßt sich vorläufig nicht mit Sicherheit feststellen. Jedenfalls hat er zu Hoyos am letzten Abend noch bemerkt, er habe viel geschrieben36). Zweifellos wurden alle Briefe in Mayerling gefunden und waren nicht im Schreibtisch in Wien, wie man aus dem Wortlaut des Kodizills vielleicht entnehmen könnte. Überhaupt darf die Mayerling-Forschung einen Umstand nie aus dem Auge verlieren: so sehr Rudolf in seinen letzten Lebenstagen offensichtlich bemüht war — hierin ganz ein Habsburger und Sohn seines Vaters — seine Angelegenheiten in Ordnung zu hinterlassen, so wenig dürfen wir bei ihm in dieser Zeit noch ein zielvolles und logisch immer einsichtiges Handeln voraussetzen. Die verstreuten Nachrichten von verschiedenen anderen Abschiedsbriefen des Kronprinzen dürften daher nicht zutreffen. Daß Rudolf seinem 32) So behauptete Helene Vetsera in ihrer Denkschrift, vergl. Das Mayerling-Original, S. 176. 33) Hollaender, a. a. O., S. 157, Anm. 15 gegen Stephanie von Belgien, a. a. O., S. 215. 34) Mitis, a. a. O., S. 396. Das Mayerling-Original, a. a. O., S. 106 f. und 162 f. Vergl. auch Carl Lónyay, a. a. O., S. 100 f. 35) Über Rudolfs Verhältnis zu Hirsch vergl. besonders Mitis, a. a. O., S. 110 ff. 36) Mitis, a. a. O., S. 388. 32*