Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 10. (1957)

Dritter Österreichischer Archivtag am 22. September 1956 in Klagenfurt

Österreich 411 darf man — auch abgesehen von den oben angeführten Gründen — die Samm­lung gegenwartsgeschichtlichen Materials befürworten. Denn nur ein staatliches oder ein im Range gleichartiges Archiv bietet die Möglichkeit ausreichenden Schutzes — wenn in modernen Katastrophenzeiten ein Schutz überhaupt möglich ist -— nur ein solches, wissenschaftlich geführtes Archiv besitzt die Unpartei­lichkeit und Objektivität, das Gesamtmaterial richtig zu bewahren und aufzu­schließen. Die Menge derartigen Quellenmaterials, welches die politisch unruhigen Zei­ten seit dem I. Weltkrieg erbrachten, wurde zwar vereinzelt gesammelt, etwa von öffentlichen Bibliotheken, nirgends aber in ihrer Eigenschaft als historische Quellen, was denn doch einen beträchtlichen Unterschied macht. Auch die politi­sche Publizistik abseits der Periodica, etwa Broschüren, halb- und pseudowissen­schaftliche Veröffentlichungen, Werbeschriften aller Art, finden sich zwar mancherorts, aber verstreut und nur nach literarischen Gesichtspunkten behan­delt. Da nun die Archive ihrem Wesen nach Hort und Sammelstätte geschicht­licher Quellenbestände sind, gehört es wohl zu den unmittelbaren Obliegenheiten der Archive, sich dieses Quellengebietes anzunehmen. Dies führt zur zweiten Frage: Welcher Art soll das Quellenmaterial sein, das in den Archiven gesammelt wird? Über die schon seit jeher in Archiven aufgenommenen schriftlichen und gedruckten Quellen hinaus erwachsen nämlich in der Gegenwart ununterbrochen neue Quellenarten, die mit den bisherigen Archivbeständen wenig oder keinen Zusammenhang mehr haben. Schon gibt es Tonband- und Schallplatten-Archive *), wie sie etwa der Deutsche Rundfunk anlegt, schon fragt man immer dringender nach Bildarchiven, nach bildlichen Quellen zu zeitgeschichtlichen Arbeiten. Das ungemein vielseitige und wertvolle Dokumentarmaterial der Wochenschauen, die schier unendlich vielen Bildreihen, die bei allen bedeutenderen Gelegenheiten aufgenommen werden, müßten nach ihrem dokumentarischen (nicht ästhetischen) Wert gesichert und aufbewahrt werden, denn die Produzenten derlei Materials können und wollen auf längere Sicht sich nicht darauf einlassen. Wer aber schafft die materiellen Grundlagen für diese Ausweitung der Sammelaufgaben der Archive? Wie ist diesen Bestän­den nach Aufstellungsraum und Organisation beizukommen? Haben die Archive die Möglichkeit, als wichtig erkannte, dokumentarisch bedeutungsvolle Aufnah­men selbst zu machen oder in Auftrag zu geben? Und gerade in den Archiven, speziell in den Landesarchiven, werden immer wieder bildliche Unterlagen für gegenwartsgeschichtliche Werke verlangt. Wenn die Landesarchive anderseits das Material nicht aufnehmen: Wer sam­melt es denn? Wer bürgt dafür, daß das Wichtige erhalten bleibt? Eine weitere Frage ergibt sich in Hinblick auf die inneren Merkmale der Quellen. Denn im weitesten Sinne kann alles einmal historische Quelle werden — wo ist die Grenze zu ziehen? Neben den politischen Ereignissen gibt es ja z. B. immer Geschehnisse auf anderer Ebene, die ebenfalls unter Umständen weite Kreise ziehen. So sind etwa auf kulturellem Gebiet in letzter Zeit vielfach derartige Vorgänge zu beobachten**). Den Landesarchiven werden ferner immer wieder -— in ganzen Sammlungen oder einzeln — Dinge angeboten, die eigentlich außerhalb des Sammelprogramms stehen: Klebemarken, Stempel, Abzeichen, Erinnerungszeichen, Tendenzfälschun­gen u. a. Auch dies alles hat einen nicht unbeträchtlichen propagandistischen Wert, hilft die öffentliche Meinung zu beeinflussen und zu formen. Trotzdem wird man im allgemeinen solche Dinge wohl kaum übernehmen. Anders steht es mit den Plakatreihen: Diese sind organisationsmäßig dem Archivmaterial ver­wandt und bilden erfahrungsgemäß eine sehr vielseitige Geschichtsquelle. Als sehr bedeutungsvolle historische Quellen, namentlich für die Lokal­geschichte und Heimatforschung, kommen weiters die Akten der Polizei- und Gendarmeriedienststellen in Betracht. Diese sind für den Lokalforscher derzeit unerreichbar, bieten aber oft Aufschlüsse, die kein anderes Aktenmaterial geben *) Vgl. „Der Archivar“, IX. Jg./1956, Sp. 209 ff. **) Z. B. die Vorgänge um die Fresken im Klagenfurter Hauptbahnhof oder das Grazer Schauspielhaus u. a. m.

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