Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 10. (1957)

WEINZIERL-FISCHER, Erika: Bismarcks Haltung zum Vatikanum und der Beginn des Kulturkampfes nach den österreichischen diplomatischen Berichten aus Berlin 1869–1871

Bismarcks Haltung zum Vatikanum und der Beginn des Kulturkampfes 317 erleben würden, beendete Bismarck das Gespräch mit dem schwer erschütterten Keformkatholiken, der ihm ein Promemoria über die kirch­liche Bewegung in Deutschland und Österreich übersandt hatte. — 14 Tage später veröffentlichte die „Kreuzzeitung“ 84) Bismarcks Kampf­ansage an das Zentrum85), einen Monat später — am 8. Juli 1871 — wurde die katholische Abteilung des preußischen Kultusministeriums aufgehoben86). Die Aufhebung wurde nun überraschender Weise mit dem Hinweis auf die Beschlüsse des Vatikanums begründet, die die Be­ziehungen zwischen Staat und Kirche berührten und auch zu Zerwürf­nissen innerhalb der Kirche geführt hätten87). Von nun an nimmt die Zahl der österreichischen Berichte, die sich mit der religiösen Frage und nach der so plötzlich erfolgten Wendung der preußischen Kirchenpolitik daher auch mit dem Infallibilitätsdogma be­fassen, ständig zu88). Hier soll jedoch nur mehr auf zwei Berichte aus dem Beginn des Kulturkampfes näher eingegangen werden, in denen Baron Münch diesen besonders ausführlich behandelt. Am 29. Juli 1871 89 *) meldete Münch, daß er kürzlich mit Staatssekre­tär Thile über den zwischen der Regierung und dem Episkopat ausgebro­chenen Konflikt gesprochen habe. Thile verkenne nicht die schweren Fol­gen der Beschlüsse der Regierung und halte deren Situation durchaus nicht für ungefährlich "). Er bedauere den Ausbruch des Konfliktes tief, der die langjährigen Segnungen des konfessionellen Friedens in Deutsch­land zu zerstören drohe91). Er könne nur mit Mühe die Haltung der 84) Die gleiche Zeitung hatte ein Jahr vorher die vom österreichisch-ungari­schen Außenministerium ausgehende Pressekampagne gegen das Konkordat von 1855 eröffnet. Hussarek a.a.O. S. 337. 85) Siehe oben S. 315. 86) Granderath a.a.O. Ill, S. 706, und Kißling, a.a.O. 1, S. 377. 87) Franz a.a.O. S. 215. — Den Beweis dafür, daß das Dogma nur als Vor­wand diente, lieferte wenige Monate später Bismarck selbst. Am 16. November erklärte er in einem Gespräch mit Bischof Ketteier von Mainz, daß das Unfehl­barkeitsdogma in seinen Augen durchaus nebensächlich sei. „Er wisse sehr wohl, daß das Konzil nur einen schon längst sehr verbreitet gewesenen Glauben kodi­fiziert habe.“ Ebendort S. 221. Dagegen gab mehr als zwei Jahre später der französische Botschafter in Berlin, Gontaut-Biron, als ersten Grund für den Kulturkampf das Dogma als Kriegserklärung gegen die Rechte des Staates an. Franz Laubenberger, Bismarck im Spiegel der Berichte und Korrespondenzen französischer Diplomaten 1870—1880, Ungedr. Diss., Graz 1956, S. 111. 88) Eine Arbeit der Verf. über den Verlauf des ganzen preußischen Kultur­kampfes im Spiegel österreichischer diplomatischer Berichte wird in einem der nächsten Bände dieser Zeitschrift erscheinen. 89) P.A. III, Kart. 103, Nr. 72 G. ■*o) im August 1871 hat Bismarck bei seinem Aufenthalt in Gastein angeblich Beust den späteren Kulturkampf in allen Einzelheiten vorausgesagt. Beust a.a.O., II, S. 480. 9i) Thile ist 1872 aus seinem Amt geschieden, weil er — ebenso wie Mühler — dem Kulturkampf ablehnend gegenüberstand. Paul Sattler, Bismarcks Entschluß zum Kulturkampf, Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Ge­

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