Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 10. (1957)

RUTKOWSKI, Ernst R.: Die Bündnisverhandlungen zwischen der Türkei, Österreich-Ungarn und Deutschland 1881–1882

358 Ernst R. Rutkowski manche Beschneidung hatte gefallen lassen müssen, bildete sie doch noch einen Faktor in der europäischen Politik, mit dem die Mächte zu rechnen hatten. In kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht nahm die Türkei seit jeher eine Mittlerstellung zwischen Europa und dem Orient ein und diese war ihr auch noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eigen, als sich ihre politische Macht bereits stark im Verfalle befand. Rußlands Streben, die Fesseln des Schwarzen Meeres zu sprengen und seine jahr­hundertealte Tendenz, in freier Entfaltung seiner Kräfte bis in den Mittel­meerraum vorzudringen, brandeten ebenso an die Pforten des Bosporus und der Dardanellen wie Englands Bemühen, das Vorherrschen seiner Macht im Mittelmeerraum zu wahren. In anderer Hinsicht und mehr aktiv gegen den Bestand der europäischen Türkei wirkte der Drang der selb­ständig gewordenen Balkan Völker nach Vergrößerung und Komplettierung ihrer Staatswesen durch die Vereinigung mit ihren, noch unter türkischer Herrschaft befindlichen Stammesgenossen oder solchen, denen sie den Wunsch, es zu werden, nachsagten. Der Berliner Kongreß, der bei der Neu­ordnung der Verhältnisse auf der Balkanhalbinsel, beziehungsweise im Orient, wie man damals sagte, auf nationale Zugehörigkeit nicht das Schwergewicht gelegt und Gebiete zugeteilt und verweigert hatte, ohne auf die Wünsche und Beschwerden der Betroffenen viel zu achten3), hatte die nationalen Aspirationen der Balkanstaaten durchaus nicht befriedigt4). Immer wieder richtete sich ihre Politik offen oder versteckt nach diesen Forderungen aus und bildete demnach eine akute Gefahr für den Bestand des türkischen Territoriums, das sich wie eine Barriere vom Schwarzen Meer bis an die Adria erstreckte. Es beherbergte in buntem Gemisch Griechen, Serben, Bulgaren und besonders Albanesen, deren Freiheitsdrang sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr steigerte und in Auf­ständen und einzelnen Bluttaten gegen die türkische Herrschaft Luft machte. Die Türken bildeten in diesem Gebiet nur einen sehr geringen Prozentsatz und die Herrschaft, die sie dort mitunter nur mit Hilfe ihrer Nizam-Bataillone mehr schlecht als recht aufrecht erhielten, war alles andere denn zufriedenstellend. Aus den bestehenden unsauberen und rück­ständigen Regierungs- und Verwaltungsverhältnissen zog der Freiheitswille der nationalen Splitter immer neue Nahrung und bildete für die angren­zenden Staaten die Berechtigung für ihre Forderungen. Völker und Staaten, 2. Aufl., München—Berlin S. 342 ff.; Robert Mantran: Histoire de la Turquie, Paris 1952, S. 106 ff.; M. Philips Price: A History of Turkey. From Empire to Republic, London—New York 1956, S. 77 ff. 3) Carl Ritter von Sax: Geschichte des Machtverfalls der Türkei bis Ende des 19. Jahrhunderts und die Phasen der „orientalischen Frage“ bis auf die Gegenwart, 2. Auflage, Wien 1913, S. 445; ferner W. N. Medlicott: The Congress of Berlin and after. A Diplomatie History of the Near Eastern Settlement 1878—1880, London 1938, S. 135 f. 4) Vgl. hierüber auch die Ausführungen bei Erich Eyck: Bismarck. Leben und Werk, 3. Bd., Erlenbach-Zürich 1944, S. 265 ff.

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