Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 10. (1957)
WEINZIERL-FISCHER, Erika: Bismarcks Haltung zum Vatikanum und der Beginn des Kulturkampfes nach den österreichischen diplomatischen Berichten aus Berlin 1869–1871
Bismarcks Haltung zum Vatikanum und der Beginn des Kulturkampfes 315 hang, bei der Erörterung des Beginnes jener großem Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche in Preußen, die als „Kulturkampf“ in die Geschichte eingehen sollte74). Nach der Veröffentlichung des Schreibens Bismarcks vom 19. Juni 1871 an den Führer des Zentrums, Graf Frankenberg, dem mitgeteilt wurde, Kardinalstaatssekretär Antonelli habe das Vorgehen des Zentrums zugunsten des Papstes desavouiert75), versuchte Freiherr von Münch die Motive dieser Haltung Bismarcks zu ergründen. Münch glaubt, daß sie vor allem in der Außenpolitik zu suchen seien. Bismarck wolle verhindern, daß Frankreich sich aktiv gegen Italien wenden könne und halte es hierfür zunächst als notwendig, den deutschen Anhängern einer Kestaurierungspolitik des Papstes jede scheinbare Unterstützung der Regierung zu entziehen und der Welt den Wunsch des Deutschen Reiches nach Frieden in Europa kundzugeben 76). Erst in zweiter Linie gelte das Auftreten Bismarcks den konfessionellen Wirren in Bayern. Den Konzilsbeschlüssen käme hingegen keine Bedeutung zu, da die durch sie geschaffene Situation in Preußen durchaus nicht in so akuter Form aufgetreten sei, wie dies in Bayern der Fall zu sein scheine. Daher ist das Interesse für sie hier auch viel geringer und die Verhältnisse seien durchaus nicht besorgniserregend 77). Umso überraschender muß daher für Baron Münch die Erkenntnis gewesen sein, daß die preußische Regierung zum Zeitpunkt seines beruhigenden Berichtes bereits begonnen hatte, gegen das Infallibilitätsdogma offiziell Stellung zu nehmen. Es war dies die bekannte Entscheidung des Kultusministers Mühler vom 29. Juni 1871 78) in dem Streit des Bischofs von Ermland gegen das Provinzialschulkollegium, das dessen Vorgehen gegen den Religionslehrer Wollmann am katholischen Gymnasium in Braunsberg nicht unterstützte. Wollmann hatte sich geweigert, über die Unfehlbarkeit zu unterrichten, worauf ihm der Bischof die fernere Erteilung des Religionsunterrichtes verbot. Der Kultusminister erklärte nun ausdrücklich, daß der Staat dieses Verbot nicht als endgültig ansehen 74) Vgl. für das Folgende Kißling a.a.O. I, S. 367 ff., Carl Schweitzer, Bismarcks Stellung zum christlichen Staat, Berlin 1923, S. 82 ff., Hans Kars, Kanzler und Kirche, Gießen 1934, S. 32 ff., und Georg Franz, Kulturkampf, München 1954, S. 185 ff. 75) G.W. XI, Nr. 1419. — Über die Stimmung Bismarcks bei der Abfassung dieses Briefes vgl. Hohenlohe-Schillingsfürst a.a.O. II, S. 64. Er wollte dem Zentrum auch nichts Angenehmes sagen, da dessen Allianz mit den Demokraten „dem Faß den Boden ausgeschlagen hatte“. 7») 24. Juni 1871, P.A. III, Kart. 103, Nr. 65, Vertraulich. 77) 1. Juli 1871. Privatbrief Münchs an Beust. P.A. III, Kart. 104. 7S) Vgl. dazu u. a. Granderath a.a.O. Ill, S. 701, Heinrich Bornkamm, Die Staatsidee im Kulturkampf, Historische Zeitschrift 170, 1950, S. 274 f., und Adelheid Constabel, Die Vorgeschichte des Kulturkampfes, Quellenveröffent- lichung aus dem Deutschen Zentralarchiv, Berlin 1956, Nr. 52, 58 f., 62, 69 ff. u. 88 ff.