Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 8. (1955)
MISKOLCZY, Gyula: † Gyula (Julius) Szekfü (1883–1955)
Gyula (Julius) Szekfü (1883 — 1955). Mit Gy. Szekfü, der im dreiundsiebzigsten Lebensjahre verschieden ist, verlor nicht nur die ungarische — wir können sagen, die mitteleuropäische — Geschichtswissenschaft einen ihrer größten Vertreter. Seine geistige Gestalt, sowie seine Rolle im öffentlichen Leben seines Landes dürfen nicht mit dem Maß des zünftigen Gelehrten gemessen werden; er hob sich darüber weit empor, zum lebendigen Gewissen des ungarischen Volkes. Die Zeiten der Palacky, der Treitschke — man könnte auch den großen rumänischen Gelehrten N. Jorga zu ihnen rechnen — scheinen endgültig vorüber zu sein, und doch erinnern manche Züge im Leben und Wirken von Szekfü an diese berühmten Vorgänger. Die Verhältnisse seiner Zeit brachten es mit sich, daß er sich der Aufgabe des Präzeptors und des Kritikers zu unterziehen hatte, obwohl er kein Staatsmann, nicht einmal Politiker war. Abgesehen von dem verhältnismäßig kurzen Zeitraum, den er nach Kriegsende als Botschafter Ungarns in Moskau verbrachte, blieb er ein einfacher Gelehrter; als solcher wirkte er mit seinen hervorragenden Eigenschaften, mit der seltenen Kraft des Geistes, dem immer wachen Verantwortungsbewußtsein, der tiefen Humanität, und dem makellosen, über jeden Chauvinismus erhabenen Patriotismus. Szekfü, der Gelehrte, war hauptsächlich Adept der deutschen Wissenschaft. Die Methode der Quellenkritik erlernte er von seinem Professor an der Universität Budapest, einem Ex-Schüler Wattenbachs. Sein Professor im Eötvös-Collegium war zwar ein gewesener Schüler der Ecole des Chartes, beobachtete aber gleichzeitig mit wachsamen Augen das mächtige Aufblühen der deutschen Wissenschaft; er lenkte unter anderen Szekfüs Aufmerksamkeit auf die Verwaltungsgeschichte, auf die Acta Borussica, sowie auf die Veröffentlichungen über die österreichische Zentralverwaltung. Die eingehende Beschäftigung mit dieser Literatur kam Sz. später, bei der Abfassung seines großen synthetischen Werkes zugute. Letzten Endes aber war doch seine wissenschaftliche Entwicklung von der Gestaltung seiner äußeren Laufbahn entscheidend beeinflußt: Nach kurzer Dienstleistung in der Bibliothek des ungarischen Nationalmuseums und im ungarischen Staatsarchiv trat er Anfang 1909 in den Dienst des Staatsarchivs in Wien; durch volle 16 Jahre, bis zu seiner Berufung auf die Lehrkanzel für neuere ungarische Geschichte an der Universität Budapest (1925), hatte er das Glück, sich in diesem wertvollsten unter den mitteleuropäischen Archiven weiterbilden zu dürfen, erst als Beamter, nach 1918 als Mitglied der ungarischen Kommission für Liquidierung der gewesenen gemeinsamen (österreichischungarischen) Archive. Die volle Entfaltung seiner wissenschaftlichen Persönlichkeit, die Befriedigung seiner mannigfachen kulturellen Interessen, die Gewinnung einer weiten Sicht über europäische Horizonte,